Frankfurter Erklärung: Zum Verhältnis von Religion und Staat – 60 Jahre nach Godesberg

Am 15. November 2019 jährt sich zum 60. Mal die Verabschiedung des Godesberger Programms. Am letzten Tag des Parteitages der SPD vom 13. – 15. November 1959 in der Stadthalle von Bad Godesberg wurde es mit großer Mehrheit beschlossen.

Nach der Überwindung Nazi-Deutschlands ging es um den Aufbruch in eine neue Zeit, in der sich die SPD zu einer erfolgreichen linken Volkspartei entwickelte und sich der seinerzeit stark katholisch geprägten CDU/CSU entgegenstellen konnte.

In einer Grundsatzerklärung anlässlich ihres Jahrestreffens heute in Frankfurt, wenige Tage vor diesem Jubiläum, fordern die säkularen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Partei auf, nicht nachzulassen in ihren Bemühungen, auch das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes zu verwirklichen, nach dem niemand – auch nicht wegen seines Glaubens, seiner religiösen Anschauungen oder weltanschaulichen Auffassungen – benachteiligt oder bevorzugt werden darf.

Neben vielen anderen bedeutenden Weichenstellungen wurde im Godesberger Programm das Verhältnis der SPD zu den Kirchen neu justiert. Damit hat die  Partei  nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur ein neues Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften in Deutschland begründet. Mit ihrem Anspruch als Volkspartei sollten weitere Wählerschichten erschlossen werden.

Nach dem 2. Weltkrieg waren noch über 90% der Bürgerinnen und Bürger Deutschlands Mitglieder der protestantischen Kirchen bzw. der römisch-katholischen Kirche. Aber schon setzte in den Kirchen, ganz besonders im Protestantismus, eine vorsichtige Annäherung an die Sozialdemokratie ein. Auch die Verunglimpfung der Sozialdemokratie und Beeinflussung der Wahlentscheidung von den Kanzeln herab, wie es in früheren Zeiten üblich war, wurde zunehmend vermieden.

In der weiteren Entwicklung unseres Landes gehen Kirchenmitgliedschaft und religiöses Interesse deutlich zurück, Großkirchen verlieren drastisch an Bindekraft. Die religiös- weltanschauliche Pluralität in Deutschland sollte Anlass sein, dass die SPD über eine zeitgemäße Politik zum Verhältnis des Staates zu den Religionen und Weltanschauungen nachdenkt. Dabei sind auch das Drittel Bürgerinnen und Bürger zu berücksichtigen, die nicht mehr in Glaubens- oder Wertegemeinschaften organisiert sind.

Als säkulare Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden wir uns innerhalb der Partei für eine stärkere Berücksichtigung gerade der religiös nicht gebundenen Mitbürgerinnen und Mitbürger einsetzen und als Netzwerk oder endlich als Arbeitskreis die säkulare Tradition unserer Partei stärken

Berliner Begegnung – Säkulare Sozis trafen den SPD-Generalsekretär

v.r.: Norbert Reitz, Swen Schulz, Daniela Kolbe, Lale Akgün, Adrian Gillmann, Uli Bieler, Ulla Wolfram, Gerhard Lein (c)Norbert_Reitz

Eine Delegation der Säkularen Sozis besuchte im Juni das Willy-Brandt-Haus in Berlin. Grund war weniger ein touristischer Ausflug in die SPD-Parteizentrale, sondern mehr ein offizieller Gesprächstermin mit Lars Klingbeil, dem Generalsekretär der Partei.

In dem offenen Gespräch berieten die Säkularen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit Lars Klingbeil die Möglichkeiten ein Diskussionsforum für die Anliegen konfessionsfreier Bürger in der SPD zu schaffen.

An dem Gespräch nahmen unsere Bundestagsabgeordneten Daniela Kolbe aus Leipzig, Swen Schulz aus Berlin, für den Bundessprecherkreis Lale Akgün, Adrian Gillmann und Norbert Reitz teil, sowie neben Lars Klingbeil beteiligten auch dessen Pressesprecherin Bianca Walther und Angelica Dinger, die Referentin für Kirchen- und Religionsgemeinschaften des Parteivorstandes.

Der Generalsekretär war sehr interessiert, die politische Ausrichtung sowie die Ziele unseres Netzwerkes erfahren. Zur Einrichtung eines Arbeitskreises (AK) Säkulare Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hatte es bisher keinen Beschluss auf Bundesebene gegeben.

Wir haben Grundzüge unserer politischen Arbeit dargestellt und an Beispielthemen verdeutlicht, die da sind:

Staat-Kirche-Verhältnis, einseitige Interpretationen des Grundgesetzes, Alternativen zur Finanzierung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, integrative Religionskunde oder Ethikunterricht und mehr. „Berliner Begegnung – Säkulare Sozis trafen den SPD-Generalsekretär“ weiterlesen

EXIT- Interview: Die SPD sollte sich einem säkularen Humanismus verpflichtet fühlen

Eulen-Interview mit Helmut Ortner, Herausgeber und Autor  von „Exit – warum wir weniger Religion brauchen?“ (2019)

Helmut Ortner, Jahrgang 1950, hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien veröffentlicht, u.a. Der Hinrichter – Roland Freisler, Mörder im Dienste Hitlers, Der einsame Attentäter – Georg Elser und Fremde Feinde – Der Justizfall Sacco & Vanzetti. Zuletzt erschienen Wenn der Staat tötet – Eine Geschichte der Todesstrafe (2017) sowie Dumme Wut, kluger Zorn (2018).

Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt. Helmut Ortner arbeitet und lebt in Frankfurt und Darmstadt. Er ist Mitglied bei Amnesty International und im Beirat der Giordano Bruno-Stiftung.

Herr Ortner, der Linken-Politiker Gregor Gysi glaubt zwar nicht an „den da oben“ fürchtet sich aber vor einer „gottlosen Gesellschaft“ und Sie geben gleich ein ganzes Buch heraus, dass den „Exit“ empfiehlt. Was würden Sie Herrn Gysi gerne entgegnen?

Wir sind ein freies, demokratisches Land. Alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben – auch Herr Gysi. Der Staat aber muss in einer modernen, säkularen Grundrechtsdemokratie gottlos sein. Entscheidend sind nicht religiöse Präferenzen, sondern Verfassungstreue. Wenn Herr Gysi sich hier vor einer gottlosen Gesellschaft fürchtet, dann empfehle ich ihm zweierlei: Stilles Gebet und vermehrten Kirchgang. Vielleicht nimmt es die Furcht …

Noch genauer zu Ihren Motiven. Warum sind Sie der Meinung, dass weniger Religion Not tut. Es scheint doch, mit Blick auf Umfragen wie auch Studien, dass ohnehin die kirchlich organisierte Religion, wie auch dogmatische Weltanschauungen auf dem Rückzug sind. Ist der „Exit“ damit schon auf dem Weg?

Die weltweiten Missbrauchs-Skandale haben als Beschleuniger gewirkt. Keine Frage: Einfluss und Deutungsmacht der Kirchen schwinden. Der Unglaube wächst. Ich deute das als Ergebnis eines zivilisatorischen Fortschritts, als Zeichen von Aufklärung und Autonomie. Kurzum: Wir brauchen weniger Religion in dieser Welt. Nach wie vor lehren sie vor allem das Fürchten, stehen für Gewalt, Intoleranz und Unterdrückung. Ungläubige und Gottlose werden in vielen Ländern noch immer verfolgt, bestraft, getötet. Der Irrsinn himmlischer Bodentruppen ist grenzenlos. Noch immer ist ihr Einfluss auf Politik und Gesellschaft stark und unheilvoll. Ob als autoritäre Staatsdoktrin oder gesellschaftliches Sinnstiftungsangebot – es braucht keine Religion für ein friedvolles Zusammenleben und einen furchtlosen Ausblick in die Zukunft.  „Die Religion vergiftet alles”, sagt  Christopher Hitchens. Mein EXIT- Buch versteht sich als Entgiftungs-Lektüre. Probieren Sie davon. „EXIT- Interview: Die SPD sollte sich einem säkularen Humanismus verpflichtet fühlen“ weiterlesen

Paragraf 219a abschaffen: JA und NEIN zur umstrittenen Reform

Dr. Nina Scheer_c_Benno Kraehahn
Hilde Mattheis_c_privat

 

 

 

 

 

Dieses Jahr im Februar hat der Bundestag die Reform des §219a StGB mit den Stimmen von Union und SPD beschlossen. Diesem Beschluss der Großen Koalition ging ein Diskussionsprozess voraus, in dem erneut zahlreiche gesellschaftliche Akteure (darunter die Säkularen Sozis) die Abschaffung des umstrittenen Paragrafen gefordert hatten.

Besonders der Fall der Gießener Frauenärztin Christina Hänel hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt, denn ihre strafrechtliche Verurteilung aufgrund von §219a wurde vom Landgericht in Gießen bestätigt. Der Richter, selbst nicht begeistert von seinem Urteil, empfahl es wie einen Ehrentitel zu tragen. Über ihre Erfahrungen als engagierte Frauenärztin, die ins Visier von selbstbezeichneten „Lebensschützern“ geraten war, hat sie daraufhin ihr „Tagebuch einer Frauenärztin“ veröffentlicht.

Die neue Reform erlaubt Ärztinnen und Ärzten zwar anzugeben, dass sie einen medizinischen Schwangerschaftsabbruch durchführen, aber für weitergehende Informationen müssen sie jedoch auf Behörden und Beratungsstellen sowie zentrale Listen verweisen. Es bleibt weiterhin unklar, wo die Grenze zwischen unerlaubter Werbung und nun begrenzt erlaubter Information verlaufen soll, weshalb Grüne, FDP und Linke sogar eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht in Erwägung ziehen.

Die Reform, die keine ist, war ein Kompromiss, der leider nicht unter Aufhebung des Fraktionszwanges abgestimmt wurde. Wäre es allein nach der SPD-Fraktion gegangen, wäre die Streichung des Paragrafen wohl erfolgt, aber leider gab die Fraktion dem Koalitionszwang, unter großen Bedenken, nach. Trotzdem ließen es sich sechs SPD-Bundestagsabgeordnete, darunter Florian Post und Hilde Mattheis, nicht nehmen, mit NEIN zu stimmen.

Die Stellungnahmen der Bundestagsabgeordneten Dr. Nina Scheer, Umweltpolitikerin aus Schleswig-Holstein, und Hilde Mattheis, Vorsitzende des Forums Demokratische Linke 21, verdeutlichen, wie schwer der Entscheidungsprozess war und dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Zusammen mit anderen, werden sich die Säkularen Sozis weiterhin für die Streichung des Paragrafen einsetzen. „Paragraf 219a abschaffen: JA und NEIN zur umstrittenen Reform“ weiterlesen

Impulse aus Hannover: Mutig Vorwärts!

Sprecherkreistreffen in Hannover_c_HorstHoffmann

Unser Sprecherkreis ist am 23. März zu seinem jährlichen Treffen in Hannover zusammengekommen. Die gewählten Sprecher*innen, nebst einigen Gästen, hatten sehr viel zu besprechen. Noch vor dem ausführlichen Bericht wie Bildern, werden deshalb die wichtigsten Impulse zusammengefasst.

Ein neues Organisationskonzept wurde beschlossen, im Zuge dessen Lale Akgün (Köln) und Adrian Gillmann (Frankfurt) zu Vorsitzenden des Sprecherkreises gewählt wurden. Neben den Berichten aus den Bundesländern und den aktiven Gruppen, wurde ausführlich über einen Beitrag von Religionswissenschaftlern der Leibniz Universität Hannover gesprochen. Es ging dabei um ein im Herbst erscheinendes Buch „Religionskunde in Deutschland“.

Beschlossen wurden aktuelle Anträge, u.a. zur Beendigung der altrechtlichen Staatsleistungen an die Kirchen.

Aus aktuellem Anlass wurde auch über das Gesprächsangebot von Generalsekretär Lars Klingbeil diskutiert, das in der vergangenen Woche durch einen Artikel in der FAZ publik geworden ist und öffentlich in zahlreichen Medien kommentiert wurde. Dazu hat der Sprecherkreis nun die folgende Erklärung beschlossen:

1. Neben den SPD-Arbeitskreisen für Gläubige (Christen, Juden und Muslime) fehlt ein solcher für die größte und weiter wachsende Gruppe der Menschen in Deutschland mit säkularer Orientierung.

2. Das Schreiben zeigt wie groß der Gesprächsbedarf auch innerhalb der SPD ist. Deshalb bieten wir unsere Hilfe bei der Meinungsbildung zu den zahlreichen drängenden Problemen des Zusammenlebens in Deutschland an.

3. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, für eine größere Gerechtigkeit zwischen allen weltanschaulichen Gruppen und für eine zeitgemäße Religions- und Weltanschauungspolitik zu kämpfen.

4. Es ist dringend erforderlich, säkular orientierten Mitgliedern ein Forum in der SPD zu geben. Wir wollen der Parteiführung Mut machen, sich mit Themen zu befassen, die in anderen Parteien schon längst auf der politischen Agenda stehen. Daher fordern wir den Bundesvorstand auf, einen säkularen Arbeitskreis in der SPD einzurichten.

In diesem Sinne werden die Sprecher*innen beauftragt, die notwendigen Gespräche mit der Partei zu führen.

Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf der Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ (Willy Brandt, 15. September 1992 auf dem internationalen Sozialistenkongress in Berlin)

„Ba§ta“-Bündnis statt Basta-Politik: Altrechtliche Staatsleistungen an die Kirchen beenden

Im Jahr 2019 wird die Weimarer Reichsverfassung (WRV) hundert Jahre alt. Was einerseits ein Grund zum Feiern ist, denn gerade die Weimarer Religionspolitik erzielte säkulare Erfolge, wie die Abschaffung der Staatskirche wie auch die Gleichsetzung religiöser und weltanschaulicher Orientierungen (Artikel 138 WRV). Andererseits blieb ein verfassungsrechtlich bestimmeter Auftrag bis heute ungelöst: Die Beendigung der Staatsleistungen der Länder an die Kirchen.

Hundert Jahre nach Weimar und siebzig Jahren nach unserem Grundgesetz, hat sich, in Bezug auf diesen verfassungspolitischen Missstand, wenig getan. Immer noch bleiben die politischen Parteien untätig, obwohl eine multireligiöse und säkulare Gesellschaft sich schon längst von einer Dominanz kirchlich organisierter Religion wie Weltanschauung verabschiedet hat. Deshalb hat sich schon 2018 ein breites Bündnis aus gesellschaftlichen und parteilichen Gruppen formiert, dem sich auch die Säkularen Sozis angeschlossen haben:

Ba§sta – Bündnis altrechtliche Staatsleistungen abschaffen.

Wir Säkularen Sozis fordern schon seit Langem, dass die altrechtlichen Staatsleistungen an die Kirchen beendet werden, die 2018 eine  Rekordsumme von 538 Millionen Euro ausmachten. Juristisch berufen sich die Kirchen dabei auf Enteignungen, die auf die politische Neugestaltung Deutschlands im Jahre 1803, den durch Napoleon durchgesetzten Reichsdeputationshauptschluss, erfolgten. Zahlreiche kirchliche Besitztümer gingen in die Obhut der jeweiligen fürstlichen Landesherren über, die sich wiederum verpflichteten die Finanzierung der religiösen Dienstleistungen und Strukturen zu gewährleisten. „„Ba§ta“-Bündnis statt Basta-Politik: Altrechtliche Staatsleistungen an die Kirchen beenden“ weiterlesen

Endlich handeln: 70 Jahre Grundgesetz – 100 Jahre missachtetes Ablösungsgebot

Musterantrag des bundesweiten Netzwerkes säkularer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten       

Als Entwurf vorgelegt von Rolf Schwanitz und vom Bundessprecher*innenkreis im Februar beschlossen.

Vor 70 Jahren, am 23. Mai 1949, wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verkündet. Das ist ein Anlass für Dankbarkeit und Freude. Das Grundgesetz hat sich seitdem zu einer stabilen und verlässlichen Grundlage für die Demokratie in Deutschland entwickelt. Die Garantie der Freiheit und der Würde des Menschen sowie der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger sind der Kern des Grundgesetzes. Es war und ist damit die freiheitlichste und die erfolgreichste Verfassung in der deutschen Geschichte. Das Grundgesetz war bis heute auch Sehnsuchts- und Orientierungspunkt über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus. Vor fast drei Jahrzehnten konnten die Deutschen dann nach der erfolgreichen Friedlichen Revolution in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Das Grundgesetz gilt seit dieser Zeit für das gesamte Deutsche Volk.

Vor 100 Jahren, am 11. August 1919, wurde die Weimarer Reichsverfassung verkündet. Aus ihr wurden 1949 die Bestimmungen zu Religion sowie zu Religions- und Weltanschaungsgemeinschaften (Artikel 136 bis 139 sowie Artikel 141 WRV) als Bestandteil in das Grundgesetz übernommen. Sie besitzen damit Verfassungsrang. „Endlich handeln: 70 Jahre Grundgesetz – 100 Jahre missachtetes Ablösungsgebot“ weiterlesen

NRW-Landesgruppengründung am 16. März: Eulenruf nach Bochum

Aufruf an alle Genoss*innen aus NRW:

Säkularität, also die religionspolitische Neutralität des demokratischen Staates, ist ein altes sozialdemokratisches Anliegen. Ohne die SPD wäre die grundsätzliche Trennung zwischen Staat und Kirche in der Weimarer Reichsverfassung nicht erreicht worden.

Leider gelang 1919 die Trennung (Weimarer Kompromiss) nur „hinkend“, also unvollständig, und in der Phase der unionsdominierten Rechristianisierung der BRD in den fünfziger und frühen sechziger Jahren wurde die „wohlwollende“ Kooperation zwischen dem Staat und den beiden Großkirchen stark ausgebaut. Die SPD reagierte darauf im Godesberger Programm 1959 mit einer Annäherung an die Kirchen.

Heute ist die religionspolitische Konstellation grundverschieden: Die Großkirchen leiden unter Mitgliederschwund und massivem Vertrauensverlust. Gut ein Drittel der Bevölkerung ist mittlerweile konfessionsfrei mit wachsendem Anteil. Der integrationspolitische Ansatz, „den“ Islam in den bestehenden Rechtsrahmen einzugliedern, ist in einer Sackgasse gelandet. „NRW-Landesgruppengründung am 16. März: Eulenruf nach Bochum“ weiterlesen

Warum die SPD jetzt „mehr Säkularität wagen“ sollte

Zur Verankerung der säkularen Forderungen in der sozialdemokratischen Programmatik.

Diskussionsbeitrag von Johannes Schwill (NRW)

Dass die SPD ihr sozialpolitisches Profil schärfen muss, um wieder Wahlen zu gewinnen, scheint in der aktuellen Programmdebatte Konsens zu sein. Dass sie auch ihr kulturelles Profil schärfen muss, um von anderen Parteien unterscheidbar zu sein, hat sich noch nicht ganz herumgesprochen. Die Fragen nach Orientierung, nach Zugehörigkeit, nach den Bedingungen eines gelingenden Miteinanders erfordern pointierte sozialdemokratische Antworten und müssen wieder mit Visionen einer besseren Zukunft verknüpft werden.

Ein wichtiger Baustein der kulturellen Neuausrichtung ist eine säkulare Religionspolitik. Dies bedeutet keine Angriffe auf Religionen und Kirchen, sondern fordert lediglich eine konsequente Neutralität des Staates in Religions- und Weltanschauungsfragen, um die positiven Potentiale der Religionen zu nutzen, die negativen einzuhegen und damit das Zusammenleben und den Zusammenhalt der Gesellschaft zu verbessern. Nach der religionsfreundlichen strategischen Wende im Godesberger Programm angesichts der Erfolge der CDU in der christlich geprägten Gesellschaft der 50er Jahre ist eine neuerliche strategische Wende notwendig: das gelebte Christentum verliert an Bindekraft, ebenso der kulturchristliche, z. T. heuchlerische „Glaube an den Glauben“ (Dan Dennett); ein Drittel der Bevölkerung ist konfessionsfrei; andere Religionen erwarten Teilhabe. „Warum die SPD jetzt „mehr Säkularität wagen“ sollte“ weiterlesen

Kleines Islampapier: Positionen für einen säkularen Islam

Auf dem Bundestreffen in Köln wurde das von den Sprecherinnen Lale Akgün, Klaus Gebauer und Adrian Gillmann erstellte „kleine Islampapier“ zur  Überarbeitung an den Sprecherinnenkreis überwiesen. Dieser hat das folgende Arbeitspapier nun komplettiert und einstimmig beschlossen. Wir Säkularen Sozis wollen auf dieser Grundlage mit säkularen  Musliminnen wie Muslimen ins Gespräch kommen und begrüßen Aktivitäten wie die der „Initiative Säkularer Islam“. 

Vorbemerkungen

Die Aktuelle Debatte, ob „der“ „Islam“ zu „Deutschland“ „gehört“, halten wir Säkularen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten für ungenügend, denn nach Jahren öffentlicher Debatten fehlen immer noch wichtige Impulse für die Weiterentwicklung unseres freiheitlich-pluralistischen Gesellschaftsprojekts.

Dem Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ kann von uns nur bejaht werden, wenn mit dem Wort „Islam“ der in unserer Gesellschaft gelebte Islam und mit „Deutschland“ die gegenwärtige gesellschaftliche Dynamik in Deutschland gemeint sind. Alle Feststellungen sind, wie die Sache selbst, dem kommenden historischen Wandel unterworfen, denn „die Zukunft ist offen“ (Hamburger Programm).

Eine Integrations-Politik, die sich mehr über kurzfristige Lobbyinteressen von Kirchen, und Islamverbänden Gedanken macht, als darüber, wie eine multireligiöse Gesellschaft zu gestalten ist, lehnen wir ab. Es darf hinsichtlich der Religiosität und der Weltanschauung der Bürgerinnen und Bürger des Grundgesetzes keine politische Klasseneinteilung geben (Artikel 3 GG in Verbindung mit Artikel 4 GG). Deshalb müssen die öffentlich-rechtlichen Privilegien der Kirchen – als traditionell organisierte Religiosität in Deutschland – abgebaut werden, und deshalb muss der Forderung der islamischen Verbände nach Privilegien widersprochen werden. Zugleich müssen – auch dadurch – den Basiskräften aller religiösen und weltanschaulichen Orientierungen gleiche Chancen gegeben werden, gesellschaftlich zu wirken (positive Freiheit der Religionen und Weltanschauungen nach Art. 4 GG).

Die Zugehörigkeit oder Identitätsvermutung über das Medium Religion wird insofern zum Politikum, als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mit Migrations- oder Abstammungsgeschichte aus islamischen Ländern vereinfacht als bekennend religiös bezeichnet werden und darüber hinaus einer konstruierten muslimischen Community zugerechnet werden. Es wird für Deutschland von vier Millionen Muslimen gesprochen, ohne dass diese Zahl organisationssoziologisch belegt oder gar statistisch eindeutig als individuelle Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion faktenfest erhoben ist. Pauschal werden alle so dem Islam zugeordneten Menschen einer christlich geprägten Mehrheit gegenübergestellt. Kulturelle, ethnische, religiöse und auch soziale Unterschiede werden weder auf der Seite der „Minderheit“ noch auf der Seite der „Mehrheit“ berücksichtigt. Aktuelle – und auch schon ältere – Forschungen aus den Islam- und Religionswissenschaften sowie – und vor allem – aus den Sozialwissenschaften, die auch für Deutschland eine Wahrnehmung islamischer Vielfalt nahelegen, werden nur am Rande wahrgenommen. Zugleich werden die großen politischen Debatten überwiegend mit den Vertretern der konservativen Islamverbände geführt. „Kleines Islampapier: Positionen für einen säkularen Islam“ weiterlesen