SPD und Christentum – Von Wurzeln und Seitenästen
Nils Opitz-Leifheit
Im aktuellen Grundsatzprogramm der SPD heißt es über die SPD: „…die ihre Wurzeln in Judentum und Christentum, Humanismus und Aufklärung, marxistischer Gesellschaftsanalyse und den Erfahrungen der Arbeiterbewegung hat.“
Die Wurzeln der SPD, (man erinnere sich an August Bebel, Ferdinand Lassalle und die frühe Arbeiterbewegung um 1865) sind also in Christentum und Judentum zu finden. Erst nachrangig wird auch auf die „marxistische Gesellschaftsanlayse“ und „Erfahrungen der Arbeiterbewegung“ hingewiesen.
Als Biologe und Botaniker habe ich mich viel mit Wurzeln befasst.
Sie sitzen normalerweise ganz unten an den Pflanzen, tief in der Erde, sie versorgen die Pflanzen mit Wasser und Nährstoffen und geben ihr Halt. Bei der Entwicklung von etwas Geschichtlichem oder in einer Biografie meint man mit Wurzeln eher sinnbildlich, dass etwas oder jemand aus dieser Quelle stammt, die Wurzel also den zeitlichen und geschichtlichen Ursprung darstellt. Wenn jemand in den USA deutsche Wurzeln hat, dann heißt das nicht, dass er vor ein paar Jahren einmal in Heidelberg Urlaub gemacht hat, sondern dass er deutsche Vorfahren hat, vielleicht auch selbst als kleines Kind aus Deutschland eingewandert ist.
Doch zurück zur SPD und ihren Wurzeln. Bei der Suche nach selbigen könnte man auf den langjährigen Vorsitzenden und Gründer August Bebel schauen. Vielleicht war er ein Pfarrer oder ein ganz frommer Geselle. Schauen wir mal, was er so sagte:
„… entspricht genau unserem programmatischen Standpunkt, der da lautet: Erklärung der Religion zur Privatsache, Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken.
Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbstständig ordnen … .“
(August Bebel im Deutschen Reichstag am 5.5.1902)
Oh, da scheint etwas nicht zu stimmen, ein frommer Christ kann er wohl nicht gewesen sein. Aber bestimmt war er eine kauzige Ausnahme, man muss ja nur in die frühen Programme schauen. Nehmen wir dieses:
Im Eisenacher Programm von 1869 heißt es unter Punkt III.5.
„5. Trennung der Kirche vom Staat und Trennung der Schule von der Kirche.“
Und im Gothaer Programm von 1875 steht als Punkt 6. im ersten Teil:
„Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat.
Allgemeine Schulpflicht.
Unentgeltlicher Unterricht in allen Bildungsanstalten.
Erklärung der Religion zur Privatsache.“
Nun, das ist komisch. Denn dies ist der Blick auf die Wurzeln. Aber ganz bestimmt hat sich die SPD dann schnell besonnen und ihren zahllosen frommen Mitgliedern zuliebe auch das Christentum endlich zu ihren Grundlagen erklärt. Schauen wir also einfach ein paar Jahre später wieder vorbei:
1921, lange nach den Bismarck´schen Sozialistengesetzen, nach dem 1. Weltkrieg und der Revolution von 1918 heißt es im Görlitzer Programm der mitregierenden SPD unter Reichspräsident Friedrich Ebert:
„Religion ist Privatsache, Sache innerer Überzeugung, nicht Parteisache, nicht Staatssache: Trennung von Staat und Kirche.
Ausgestaltung der Schule zur weltlichen Einheitsschule.“
Und vier Jahre später, 1925, im Heidelberger Programm:
„Die öffentlichen Einrichtungen für Erziehung, Schulung, Bildung und Forschung sind weltlich.
Jede öffentlich-rechtliche Einflussnahme von Kirche, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auf diese Einrichtungen ist zu bekämpfen.
Trennung von Staat und Kirche, Trennung von Schule und Kirche, weltliche Volks-, Berufs- und Hochschulen.
Keine Aufwendung aus öffentlichen Mitteln für kirchliche und religiöse Zwecke.“
Nun, jetzt wissen wir, die christlichen Wurzeln der SPD, die so groß und stark sind, dass sie im aktuellen Programm an erster Stelle stehen, waren in den ersten sechs Jahrzehnten zumindest unsichtbar. Die SPD war unzweideutig kirchenfeindlich gesonnen, die Kirchen ihrerseits machten keinen Hehl aus ihrer feindseligen Haltung zur SPD. Vereinzelte Christen in der damaligen SPD hatten zumindest keinen Einfluss auf die Grundhaltung der Partei.
Doch nun, (der fromme Leser wird sagen: „Endlich! Also doch!“) mit dem Godesberger Programm 1959, da war die liebe Tante SPD schon stolze 94 Jahre alt, so alt wie die AWO heute, kommt ein „Lichtblick“ ins Programm:
„Zu den Wurzeln:
Der demokratische Sozialismus, der in Europa in christlicher Ethik, im Humanismus und in der klassischen Philosophie verwurzelt ist, will keine letzten Wahrheiten verkünden – nicht aus Verständnislosigkeit und nicht aus Gleichgültigkeit gegenüber den Weltanschauungen oder religiösen Wahrheiten, sondern aus der Achtung vor den Glaubensentscheidungen des Menschen, über deren Inhalt weder eine politische Partei noch der Staat zu bestimmen haben.“
Und weiter:
Die Sozialdemokratische Partei achtet die Kirchen und die Religionsgemeinschaften, ihren besonderen Auftrag und ihre Eigenständigkeit. Sie bejaht ihren öffentlich-rechtlichen Schutz. Zur Zusammenarbeit mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften im Sinne einer freien Partnerschaft ist sie stets bereit. Sie begrüßt es, dass Menschen aus ihrer religiösen Bindung heraus eine Verpflichtung zum sozialen Handeln und zur Verantwortung in der Gesellschaft bejahen.
Freiheit des Denkens, des Glaubens und des Gewissens und Freiheit der Verkündigung sind zu sichern. Eine religiöse oder weltanschauliche Verkündigung darf nicht parteipolitisch oder zu antidemokratischen Zwecken missbraucht werden.
Der letzte Satz ist immerhin noch eine offene Drohung, Religion nicht politisch zu missbrauchen. Und christliche Ethik ist nicht das Gleiche wie Christentum. Doch ansonsten ist dies eine deutliche Öffnung und Hinwendung zu Kirchen und Christen.
Was war geschehen? Die SPD wandte sich, auch in ihrer Haltung zu Westintegration und Marktwirtschaft zur politischen Mitte, verabschiedete sich von ihrer Beschränkung darauf, eine sozialistische Arbeiterpartei zu sein und öffnete sich damit für die breite Mitte der Bevölkerung. Sie wurde die Volkspartei, als die wir sie kennen und sie wurde endlich im kirchlich geprägten Adenauer-Deutschland (95% waren katholisch oder evangelisch) mehrheitsfähig. Herbert Wehner, der als Architekt dieser massiven Veränderung gilt, hat damit die späteren Erfolge der SPD ermöglicht.
Kurz zuvor hatte sich die protestantisch geprägte „Gesamtdeutsche Volkspartei“ GVP aufgelöst und war weitgehend in der SPD aufgegangen, Gustav Heinemann, Erhard Eppler, Johannes Rau und andere kamen zur SPD.
Diese Zeit und diesen Prozess kann und muss man als Wendepunkt im Verhältnis SPD und Kirchen sehen, auch wenn er sich fast nur auf den Protestantismus bezog.
Doch noch einmal zurück zur Botanik: Da hat ein Baum im oberen Drittel eine Seitenwurzel. Bei Urwaldbäumen spricht man auch von Luftwurzeln. Aber eine Wurzel im biografischen Sinne ist dies wohl kaum und erst recht keine normale Wurzel im botanischen Verständnis.
Was wir hier schaurig schön vor uns ausgebreitet sehen ist der sehr langsame und eben deshalb wenig auffallende Prozess einer vielleicht unbewussten Geschichtsklitterung. Waren zahllose der frühen Sozialdemokraten bekennende Marxisten und Humanisten, und auch dezidiert antiklerikal, so wird die Geschichte heute (weil es opportun erscheint?) so umgedeutet, dass Christentum und Judentum im Sinne einer Anbiederung an die Religionsgemeinschaften nachträglich zu Wurzeln erklärt werden.
Das Erstaunen wächst noch, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in Entwürfen des aktuellen Hamburger SPD-Programms der Begriff des Marxismus komplett verschwunden war. Aber zu dieser allzu plumpen Geschichtsfälschung mochte man sich am Ende dann doch nicht durchringen.
Ich selbst bin kein Marxist, ich halte ihn als Philosophie für unerträglich und grottenfalsch, als frühe Wirtschaftsanalyse war er immerhin interessant und wegweisend. Aber ihn nachträglich als Wurzel der Sozialdemokratie zu verleugnen hielte ich für ebenso geschichtsverfälschend wie die nachträgliche (V)Erklärung der SPD zu einer im Christentum wurzelnden Partei.
In den ersten Jahrzehnten der SPD waren die Kirchen noch Lichtjahre davon entfernt, die moderne Physik und Biologie (von Darwin bis zur Astronomie) zu akzeptieren, die Kirchen waren das Bollwerk schlechthin gegen Frauengleichberechtigung, gegen Aufklärung und gegen Bestrebungen, Adel und Kaisertum zu entmachten. Es gehört schon viel Phantasie und Geschick dazu, die Geschichte so zu verdrehen, dass diese Kirchen und ihre Religion als Wurzel der Sozialdemokratie betrachtet werden können.
Kehren wir also zurück zu einer ehrlichen und nüchternen Betrachtung unserer Geschichte, auch da, wo uns dies nicht ganz in den Kram passt.
Und besinnen wir uns auf Herbert Wehner, der letztlich wohl vor allem aus klugem Machtkalkül und strategischer Überlegung die SPD für Kirchen und Christentum öffnete und wählbar machte, weil dies im Nachkriegsdeutschland für die SPD existentiell war. Der Schritt war offenbar richtig, in jedem Falle erfolgreich.
Aus dem gleichen Grund ist es heute, gut 50 Jahre später, wichtig, die Zeichen der veränderten Zeit zu erkennen. Nicht mehr 95% sind heute Mitglieder der beiden großen Kirchen, sondern noch ganze 58%, Tendenz weiter fallend. Zudem ist auch die Bindung der konfessionsgebundenen Menschen in ihre Kirchen immer schwächer geworden, selbst unter ihnen heiratet beispielsweise nur noch ein Bruchteil kirchlich und nur ca. 10% besuchen die Gottesdienste. Hinzu gekommen sind nicht nur 6% der Menschen mit moslemischem Hintergrund (die fälschlicherweise allesamt wegen ihrer reinen Herkunft als moslemisch bewertet werden), sondern auch 34% Konfessionsfreie, deren Zahl ständig steigt.
Die SPD sollte sich deshalb weder immer weiter zu einer Kirchenpartei entwickeln (die Bestrebungen dahin sind leider unverkennbar), noch die wachsende Bevölkerungsgruppe der Konfessionsfreien (die überproportional jung ist und auch den größten Anteil der Steuerzahler stellt) weiterhin schlicht ignorieren, indem sie sich einseitig für Kircheninteressen einsetzt.
Denn, so hat es einmal Willi Brandt gesagt: „Besinnt Euch darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat.“
Heute ist nicht 1865, und heute ist nicht 1959.
Heute ist heute.
Nils Opitz-Leifheit, Juli 2010