Ein gemeinsamer Ethik-Unterricht für alle Schüler:innen anstelle des Religions-unterrichts ist ja eine alte Forderung der Freidenkerbewegung und der weltlichen Schulbewegung in der SPD. Da der konfessionelle Religionsunterricht nach der NS-Zeit und dem 2. Weltkrieg in der Bundesrepublik ein kraftvolles Revival erlebte, dauerte es jedoch in vielen Bundesländern lange, bis für die „Religions-abmelder“ wenigstens eine Alternative, meistens in Form eines „Ersatzfaches“, etabliert werden konnte. Nur in wenigen Ländern gelang es, begünstigt durch die Bremer Klausel, ein gemeinsames Wertefach einzuführen. Weitergehende Forderungen der Säkularen verhallten bislang, zum Teil auch deshalb, weil man primär religions- und kirchenkritisch argumentierte, die weltanschauliche Gerechtigkeit betonte und erfolglos am „Verfassungszaun rüttelte“.
Nun scheint sich in NRW, traditionell eine Hochburg des bikonfessionellen Systems, vor der Landtagswahl im Mai der Wind zu drehen. Mehrere begün-stigende Faktoren treffen aufeinander: Die Grünen und auch die FDP haben die Forderung nach einem Ethikunterricht für alle im Wahlprogramm. Die SPD zeigt sich mittlerweile dank des Engagements der Säkularen Sozis mindestens aufgeschlossen, das Thema ernsthaft zu diskutieren. Hier überzeugt weniger die alte Freidenkerposition „Religiöse Märchen und Mission haben in der Schule nichts verloren“ als die Einsicht in die bildungspolitische Notwendigkeit, den Spaltungstendenzen in der pluralistischen Gesellschaft entgegenzuarbeiten, indem in einem offenen Werteunterricht miteinander, nicht übereinander geredet wird und eine gemeinsame, auf den Menschenrechten gegründete Wertebasis erarbeitet wird. Selbstverständlich gehören dann dazu auch religiöse ethische Traditionen.
Die Förderung der religiös-kulturellen Identität, vor zehn Jahren noch positiv in der Bildungspolitik diskutiert, wird aufgrund der Auswüchse der Identitäts-politik zunehmend kritisch gesehen – auch wenn die Identitätspolitik namentlich in der Rassismusdebatte nach wie vor merkwürdige „woke“ Blüten treibt.
Hinzu kommen weitere günstige Umstände: Der ehemals breite Konsens, dass der islamische Religionsunterricht für die politische Extremismusprävention notwendig sei, bröckelt; die kritischen Stimmen bei Rot-Grün werden lauter – für säkulare Insider keine Überraschung.
Auch die selbstkritischen Stimmen in den Kirchen werden lauter, vor allem in der katholischen Basisbewegung, die durch den Missbrauchsskandal wach gerüttelt wurde. Hier wird mittlerweile von einigen die konsequente Trennung von Kirche und Staat gefordert, um den Kern ihres Glaubens zu schützen; etliche katholische Religionslehrer:innen im Rheinland gaben ihre „Missio“ unter Protest zurück. Hier zeichnen sich unverhoffte Kooperationschancen ab.
Eine weitere Entwicklung begünstigt die ernsthafte Diskussion über ein integriertes wertebildendes Fach: In Corona-Zeiten mussten die Klassen ja notgedrungen zusammenbleiben; ein integrierter Unterricht in der Reli-Schiene musste improvisiert werden– und klappte an vielen Schulen erstaunlich gut. Der Anachronismus der konfessionellen Schubladenbildung wurde auch vielen Schüler:innen bewusst.
Schließlich erscheinen die rechtlichen Hürden nicht mehr unüberwindbar: Die Einführungswege über die „bekenntnisfreie“ Schule (GG 7,3), über freiwillige Kooperationen der rechtstragenden Religionsgesellschaften oder über ein epochales Abwechseln mit dem konfessionsgebundenen Religionsunterricht wären ohne Änderungen von GG und NRW-Landesverfassung gangbar.
Hoffen wir, dass diese Impulse nach der NRW-Wahl oder – horribile dictu, durch den Krieg – nicht versanden, sondern ein wichtiger Teil der überfälligen bildungspolitischen Debatte werden. Die konkrete Ausgestaltung und Implementation des Faches würde schwierig genug – siehe z.B. die Debatten in Brandenburg oder Luxemburg. Natürlich dürfen die Religiösen dabei nicht dominieren! Es geht nicht um einen so genannten „multireligiösen“ Unterricht wie in Hamburg, sondern um einen interkulturellen Unterricht. Die philosophisch-kritische, kulturhistorisch vergleichende, weltlich-humanistische Perspektive muss im Vordergrund stehen!
Johannes Schwill (NRW)