Der kulturwissenschaftliche Religionswissenschaftler und evangelische Christ, Michael Blume, machte kürzlich mit seinem Beststeller „Islam in der Krise“ (2017) landauf wie landab Schlagzeilen. Als Referatsleiter für Kirchen- und Religionsangelegenheiten beim Staatsministerium Baden-Württemberg, findet er trotzdem noch Zeit für religionswissenschaftliche Forschung und ein Engagement für den Dialog der Religionen wie Weltanschauungen. Im Jahr 2015/16 leitete er zudem das Baden-Württemberger Sonderkontingent Irak, für besonders Schutzbedürftige, in Folge dessen über 1000 Jesidinnen und ihre Kinder aus den ehemaligen Gebieten des IS gerettet werden konnten.
Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion, die Neurotheologie sowie Verschwörungsglauben und Religionen (und Weltanschauungen) in den sozialen Medien. Entgegen polemischer Verhältnisse, wirbt er für ein zivilgesellschaftliches Engagement aller Religionen wie Weltanschauungen und sieht in einem „säkularen Staat das beste Mittel, weltliche Angelegenheiten auch weltlich zu regeln.“ Seine beherzten Thesen zu Säkularisierungsprozessen im Islam im Besonderen, sowie einer umfassenden Religionsfreiheit im Allgemeinen, sprechen für sich und fordern eine säkulare Religionspolitik heraus, ihre Grenzen wie auch ihre Möglichkeiten in den Blick zu nehmen.
Herr Blume, als evangelischer Christ und Religionswissenschaftler treten Sie für eine umfasssende Religionsfreiheit ein, die auch die Rechte von Atheisten, Agnostikerinnen wie Agnostikern und Humanisten im Blick hat. Warum?
Eine alte Erkenntnis der Religion-Staats-Debatten wird derzeit wissenschaftlich neu entdeckt: Zwang und Heuchelei zerstören gerade auch den religiösen Glauben. Die so genannten Glaubwürdigkeit steigernden Signale (Credibility Enhancing Displays, CREDs) wie öffentliche Gebete, Opfer und Kleidungsvorschriften werden entwertet, wenn sie nicht freiwillig befolgt werden. Ein aktuelles Beispiel ist das Kopftuch im Iran. Da es staatlich erzwungen wird, enthält es keinerlei Aussage mehr über die individuelle Haltung der Trägerinnen und verliert jeden Signalwert. Mutige Frauen im Iran lassen sich inzwischen sogar dafür verhaften, dass sie sich diesem Zwang widersetzen! Umfassende Religionsfreiheit ist daher sowohl für nichtreligiöse wie für religiöse Menschen am Besten.
Deswegen sehe ich es auch mit Entsetzen, dass sogar staatliche Stellen in Deutschland die Religionszugehörigkeit von Muslimen an der Herkunft statt an der selbst gewählten Mitgliedschaft wettmachen. Viele ehemalige Muslime sagen mir, dass sie in eine Schublade gezwängt werden, in die sie längst nicht mehr gehören.
Mit der Freiheit sich für eine, keine oder gar wechselnde Religionen wie Weltanschauungen zu entscheiden, wird oft eine Identitätsdebatte vermischt. Jeder muss irgendwie Christ, Muslim oder Humanist „sein“. Welche Folgen hat das für Religionsfreiheit?
Mit Samuel Huntingtons „Clash of Cultures“ und den Anschlägen des 11. September 2001 traten plötzlich wieder religiöse Kategorien an die Stelle von ethnischer Herkunft und aus Menschen türkischer, bosnischer und arabischer Herkunft wurden plötzlich wieder „Muslime“, selbst wenn diese seit Jahren keine Moschee mehr betreten hatten. Dagegen fielen andere Gruppen wie Deutsch-Italiener und russische Spätaussiedler plötzlich aus den Integrationsdebatten heraus, obwohl es unter diesen natürlich ebenso Sprach- und Bildungsrückstände und ein mangelndes Verständnis für Gleichberechtigung, Demokratie und Rechtsstaat gab und gibt. Es ist eben auch für Wissenschaft und Medien gar nicht so leicht, mit den komplexen Biografien und Identitätskonstruktionen von Menschen umzugehen, in denen Religionen und Weltanschauungen auch, aber nicht exklusiv vorkommen.
Der Befürworter einer freiheitlich-pluralen Säkularität, Charles Taylor, warnt in seinen Werken vor einem „Staatsbürgertum zweiter Klasse“, wenn politische wie religiöse Identität Zwängen oder rechtlichen Einschränkungen unterliegen. Sehen Sie solche Gefahren auch?
Ja und Nein. Unser Grundgesetz verbietet zu Recht jede Diskriminierung von Menschen, auch aufgrund von Religionszugehörigkeit und Herkunft. Andererseits dürfen und sollten wir uns eher deutlicheres Vorgehen beispielsweise gegen religiösen oder politischen Extremismus, etwa gegen Antisemitismus und generell Verschwörungsglauben wünschen. Wir sollten durchaus kritisch nachfragen, wenn etwa mitten in Deutschland ein Gotteshaus nach einem militanten Imperialisten benannt wird, beispielsweise eine Moschee nach dem Istanbul-Eroberer Sultan Fatih Mehmet. Ebenso ist nicht zu akzeptieren, dass in Saudi-Arabien die Todesstrafe auf Atheismus steht oder in Myanmar Buddhisten Muslime verfolgen. Anders gesagt: Während Kollektivurteile über jede religiöse Gruppe unterbleiben sollten, so darf das nicht zu einem Verstummen von Widerspruch führen, wo er wichtig ist.
Die Religionsfreiheit von religiösen oder weltanschaulichen Minderheiten in verschiedenen Ländern, die oftmals mehr oder weniger in Konflikt mit der herrschenden Politik geraten sind, wird oft eingeschränkt bis abgeschafft. Ist Religionsfreiheit gefährlich?
Ja, kein autoritäres System kann Religionsfreiheit vertragen. Liberale Philosophen wie Friedrich August von Hayek haben diese Freiheit daher auch historisch und tatsächlich als die Wurzel der Freiheitsrechte beschrieben. Denn Religionsfreiheit umfasst ja das Verfolgen eigener Lebensziele bis hin zu Wohnort, Wirtschafts- und Familienfragen, das Versammeln in selbstgewählten Gemeinschaften und Opfern, das Bauen, Kleiden und Hervorbringen religiös begründeter Werte und Normen. Kein Staat kann also grenzenlose Religionsfreiheit gewähren – man denke etwa an Menschenopfer -, umgekehrt aber ist das Ausmass an Religionsfreiheit eines der deutlichsten Signale für die Freiheitlichkeit einer Gesellschaft. Auch die Selbstorganisation und der potentielle Kinderreichtum von Religionsgemeinschaften können sich nur entwickeln, wenn diese Freiheit gewahrt bleibt.
In ihrem neuesten Buch „Islam in der Krise“, aber auch an anderer Stelle, sprechen Sie von Säkularisierungsprozessen unter Muslimen. Was verstehen Sie darunter und trifft das auch auf andere Religionen und Weltanschauungen zu?
Wir wissen aus der internationalen Forschung wie auch aus der Hirnforschung längst, dass religiöse Erfahrungen und religiöse Praxis durchschnittlich abnehmen, wenn Menschen längere Zeit in existentiell gesicherten Verhältnissen leben. Und es wäre sehr seltsam, wenn das nur bei Muslimen nicht der Fall wäre. Es ist aber auch bei ihnen eindeutig der Fall: Ein schnell wachsender Anteil der Menschen muslimischer Herkunft bezeichnet sich nicht mehr als religiös oder gleich ganz als konfessionslos. Weniger als die Hälfte derer, die sich noch als Muslime bezeichnen, beten überhaupt noch regelmäßig. Unter den Frauen, die bereits in Deutschland aufgewachsen sind, sinkt der Anteil der Kopftuchträgerinnen stark. Auch die Mitgliedschaft in religiösen Verbänden und die Geburtenraten gehen stark zurück. Mir ist klar, dass die Befunde aus „Islam in der Krise“ die inzwischen gängigen „Islamisierungsmythen“ herausfordern. Aber Wissenschaft ist eben auch für die Korrektur angstgesteuerter und objektiv falscher Wahrnehmungen da.
Säkulare, die sich für Vielfalt und Gleichberechtigung einsetzen, sehen sich oft Vorurteilen ausgesetzt, antireligiös zu sein, oder einen ideologischen Säkularismus zu vertreten. Wo würden Sie hier Grenzen ziehen, oder gar sich selbst als „säkular“ oder „säkularitätsfreundlich“ bezeichnen?
Gerade auch durch das Internet hat es einen kurzzeitigen Aufschwung des so genannten „neuen Atheismus“ und eine verstärkte Polemik auch zwischen Theisten und Antitheisten gegeben. Dabei werden Religiöse zu schnell als Fundamentalisten bezeichnet und Nichtreligiöse zu schnell als „Säkularisten“. Erinnern wir uns: Säkular bezeichnete ursprünglich die weltliche Zeit im Gegensatz zur Transzendenz und die Säkularisation den Übergang von kirchlichem Eigentum oder zölibatären Geistlichen zurück in die Weltbeziehungen. Heute sollte klar sein, dass ein säkularer Staat das beste Mittel ist, um weltliche Angelegenheiten auch weltlich zu regeln. Gleichzeitig muss dieser Staat religiösen Menschen und Religionsgemeinschaften auch die Freiheiten einräumen, darüber hinaus durch Wort und Tat nach überzeitlichen Zielen zu streben. Es muss möglich sein, über diese Abgrenzungen immer wieder zu diskutieren, ohne einander zu beleidigen.
Sie plädieren dafür, dass Menschen sich zivilgesellschaftlich engagieren und dass Religionen wie Weltanschauungen sich organisieren sollen, und nehmen hier auch die Säkularen bis Humanisten in die Pflicht. Sehen Sie hier Potenzial die großen Probleme unserer Zeit, wie Klimawandel, Rohstoffkrise, Migration und Kriege zu lösen?
Mir geht es darum und um mehr. Es ist meines Erachtens sehr gefährlich, wenn sich immer mehr politische Erwartungen an den Staat richten und sich zugleich die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft in Familien und Gemeinschaften auflöst. Es hat noch keinem Staatswesen gut getan, wenn es zu mächtig und die Menschen zu abhängig wurden. Deswegen rufe ich nicht nur Religiöse, sondern gerade auch Nichtreligiöse auf, sich selbst zu organisieren und mit eigenen Beiträgen für eine bessere Welt einzustehen. Auch durch das Aufziehen von Kindern werden Werte, Freiheiten und Bildung gelebt sowie an die Zukunft weitergegeben. Dass nichtreligiöse Populationen bislang weltweit und soweit wir sehen können auch ausnahmslos an Kindermangel leiden muss ja kein Dauer- oder gar Naturgesetz sein.