Eulen-Interview mit Prof. Heiner Keupp, LMU München, Prof. em.
Der langjährige Professor für Sozial- und Gemeindepsychologie an der LMU München, Heiner Keupp, beschäftigte sich schon früh mit Fragen individueller und kollektiver Identitätsbildung. Er prägte Begriffe wie „Patchwork-Identität“ und „Identitätsarbeit“ und Bücher wie„Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne“ oder „Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel„ betonen sein Interesse an Bedingungen wie Folgen des Wandels der Verhältnisse von Gesellschaft, Institution und Individuum. Keupp wirkte als Vorsitzender der Berichtskommission des 13. Kinder- und Jugendberichtes der Bundesregierung und an mehreren Studien zum sexuellen Missbrauch an kirchlichen wie staatlichen Einrichtungen mit. Seit 2016 ist er Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
Professor Keupp, Sie sind Mitglied der unabhängigen und ehrenamtlichen „Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs“. Sehen Sie in der Existenz sowie der Arbeit dieser Kommission einen wichtigen Schritt zur Enttabuisierung von Missbrauchserfahrungen in der Gesellschaft?
In einer Gesellschaft, in der die Skandalisierung zu einem der beliebtesten Volkssportarten geworden ist und Enttabuisierung Normalitätsstatus erlangt hat, wirkt es auf den ersten Blick paradox, dass die gewaltförmigen Grenzverletzungen in – zum Teil prominenten – Institutionen so lange aus den öffentlichen Diskursen ausgeklammert waren. Ahnungen und Vermutungen gab es sicherlich wiederholt, aber sie wurden entweder als Einzelfälle abgetan oder als Angriffe z.B. auf die Institution Kirche oder die Reformpädagogik dargestellt. Betroffene, die heute über ihre Gewalterfahrungen in Internaten zu sprechen beginnen, haben vor allem in den 60er, 70er und 80er Jahren wichtige Jahre ihres Heranwachsens dort verbracht. Dass sie jetzt darüber sprechen können, hat sicherlich mit der Tatsache zu tun, dass sie sich jetzt nicht mehr in den Schweigecontainer aus Tabus und Scham eingesperrt sehen. Aleida Assmann spricht von einem „repressiven“ oder einem „komplizitären Schweigen“, das Täter geschützt und Betroffene in die Isolation traumatisierter Subjekte gedrängt hat.
Seit 2009 beginnt diese Schweigeordnung zu bröckeln und viele Betroffene überwinden die Ohnmacht, in die sie durch den „zerstörerischen Pakt des Schweigens“ (Assmann) gezwungen wurden und es sind vor allem solidarische Netzwerke in Selbsthilfegruppen und im Austausch in Social Media, die diesen Prozess ermöglicht haben. Aber letztlich bedurfte es „eines grundlegenden Wertewandels in der Gesellschaft und einer neuen Sensibilität für die Abhängigkeit und Ausbeutung ihrer schwächsten Glieder“ (Assmann). Die Bereitschaft, Menschenrechtsverletzungen wahrzunehmen und zu thematisieren, ist größer geworden. Dass dieser Prozess erst begonnen hat und noch längst nicht die wirklich schwächsten Glieder erreicht hat, wird deutlich, wenn man sich die bisherigen Aufarbeitungsprojekte vergegenwärtigt. Sie haben in Eliteinternaten begonnen und inzwischen auch den Sektor der Heime in kirchlicher oder staatlicher Trägerschaft im Blick – die Einrichtungen der Behindertenhilfe sind in diesen gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess noch kaum einbezogen. Die notwendige Tiefenschärfe beginnt sich erst in kleinen Schritten herzustellen: Erst die Kinder und Jugendlichen in den Eliteinternaten, dann die ehemaligen Heimkinder und ganz zuletzt die vergessenen Kinder in Behinderteneinrichtungen und Psychiatrie.
Die Schweigemauern sind längst noch nicht komplett durchbrochen, aber es gab diesen wichtigen kollektiven Disclosureprozess, der von ehemaligen Heimkindern zuerst begann und der dann vor allem von Betroffenen des Canisiuskollegs, der Klosterinternats Ettal und der Odenwaldschule durch ihren Schritt in die Öffentlichkeit möglich war. Er hat eine intensivere gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung angestoßen: Runde Tische wurden gebildet, die Position einer Unabhängigen Beauftragten wurde geschaffen, ein Betroffenenrat berufen und der Deutsche Bundestag hat die Einrichtung einer Unabhängigen Aufarbeitungskommission beschlossen. Einige Institutionen haben auch wissenschaftliche Aufarbeitungsprojekte in Auftrag gegeben. Die Aufarbeitungskommission hat inzwischen zusammen mit den Anhörungsbeauftragten mehr als 700 vertrauliche Anhörungen durchgeführt. Noch einmal so viele Anmeldungen liegen vor. Es wurden drei öffentliche Hearings zum Missbrauch in Familien, Heimen in der DDR und in den beiden christlichen Kirchen durchgeführt, die eine bemerkenswerte Medienresonanz erfahren haben. Damit ist ein wichtiger Anfang der Enttabuisierung gesetzt, aber mehr als ein Anfang ist es noch nicht!
Neben Bildungseinrichtungen und Behörden, sind es vor allem die Kirchen, die sich in der Aufarbeitung von Missbrauch durch Priester und anderes Personal schwertun. Sie vergleichen diese sogar mit der Autoindustrie, hinsichtlich Vertuschung. Was meinen Sie damit?
Lange Zeit haben sich die Kirchen in einem juristisch und medial nach außen abgeschlossenen gesellschaftlichen Raum definiert. Inzwischen sind sie aber in der Zivilgesellschaft angekommen und sie haben sich all den Fragen und Herausforderungen zu stellen, die eine demokratische Öffentlichkeit erwartet. Eine Erwartung, die vor allem von Menschen formuliert wird, die im kirchlichen Kontext Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind, und die auch eine wacher gewordene Öffentlichkeit teilt, ist die Bereitschaft der Kirchen, endlich Verantwortung für das zu übernehmen, was von ihren Repräsentanten Kindern und Jugendlichen angetan wurde. Es reicht nicht, immer nur das zuzugeben und aufzuarbeiten, das von Betroffenen aufgedeckt wurde. Manchmal entsteht der Eindruck, als würde die Autoindustrie aktuell dieses Modell kopieren: Zugegeben wird, was nicht mehr vertuscht werden kann. Der Missbrauch in Institutionen in kirchlicher Trägerschaft und durch Mitarbeiter der Kirche konfrontiert uns mit einem schwer erträglichen Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Kirchen haben eine besondere Verantwortung das erlittene Leid aus dem gesellschaftlichen Schweigecontainer herauszuholen. Wir wissen wie wichtig es für die Betroffenen und die gesamte Gesellschaft ist, die Duldung und die Beteiligung an Unrecht und Verbrechen aufzuarbeiten sowie die Trauer über das, was Menschen angetan wurde, zuzulassen. Wir erwarten von den Kirchen, dass sie solche Schritte der Aufarbeitung in glaubwürdiger Form unternehmen.
Kirchen legen die ihnen zustehende grundgesetzliche Selbstbestimmung von Religionsgemeinschaften mitunter großzügig aus. Hinsichtlich von Missbrauchsfällen entsteht oft der Eindruck, dass eine Art interne Klärung Vorrang hat vor dem Strafrecht oder auch einer nötigen Transparenz. Wie sehen Sie das?
Kirchen waren immer wichtige Orte gesellschaftlicher Integration und sind es ja zum Teil noch immer. Sie sind aber auch Institutionen, die machtvoll nicht nur in die Biographien und Moralvorstellungen der Menschen hineinwirken, sondern bilden auch Systeme gesellschaftlicher Macht, die über Jahrhunderte von dem Rest der Gesellschaft abgeschottete Sonderbezirke bildeten, mit eigener Rechtsordnung und dem Selbstverständnis, dass in diesen Sonderbezirken eigene Regulative gelten. Die Gesellschaft außerhalb sollte von Verfehlungen und Missbrauch nichts erfahren. Ein Priester hat uns das in unserer Studie zum Missbrauch im Klosterinternat Ettal (Keupp et al. 2017)so erklärt: „Ich glaub‘, dass wir damals, (…), noch ganz stark in diesem kirchlichen Denken waren, dass das ein Problem ist, was man vielleicht intern lösen muss und hoffentlich kann, aber was die Außenwelt sozusagen nichts angeht. Es war ja sogar im Kirchenrecht so drinnen, dass man nichts nach außen verbreiten darf. Ich glaub‘, dass wir das alle in uns gehabt haben.“ Diese Schweigeordnung und die mit ihr verknüpfte Selbstverpflichtung hat bis in die Gegenwart sehr gut funktioniert.
Auch wenn die Abschottung weniger stattfindet, bleibt doch ein hohes Reflexionsdefizit der Kirchen in Bezug auf ihre Macht in unterschiedlichen Dimensionen. Aus ihrer gesellschaftlichen Stellung folgt, dass Kirchen über Macht verfügen. Es gibt die institutionelle Macht, die in speziellen Rechten und Privilegien (in Konkordaten abgesicherte Arbeitgeberrechte, Steuerrecht, Besetzungsprivileg spezifischer Hochprofessuren) sichtbar wird. Es gibt aber auch eine besondere Macht über die Seelen und Herzen der Menschen. Michel Foucault nennt das die „Pastoralmacht“ und erklärt sie über das Bild vom „guten Hirten“, der Weg weist zum guten Leben, der den Pfad zu „inneren Wahrheiten“ kennt und der dazu ein höheres Mandat hat. Mit dem Begriff „Seelenheil“ können wir nicht mehr sehr viel anfangen, aber sehr viel mit der Suche nach Lebenssinn, Sicherheit, die Routinen und Zweckrationalität des Alltags überschreitende Werte. Viele Eltern suchen Orte für ihre Kinder, an denen solche Ziele vertreten werden. Eine Mutter, deren Sohn in einem Klosterinternat schwer missbraucht wurde, sprach davon, dass sie ihn doch in „Gottes Hand“ gegeben hätte. Es handelt sich um „Gottvertrauen“, das in Priestern, Pfarrern, Mönchen, Nonnen/Diakonissen eine Personifikation erfährt. Aus dieser Konstellation entsteht eine besondere Beziehung, eine große Nähe und ein Machtpotential, ja ein Machtgefälle, das für Kinder und Jugendliche schwer durchschaubar ist und dem sie sich oft ohnmächtig ausgeliefert sehen. Hier begründeter Missbrauch ist vor allem psychologischer Natur: Selbstvertrauen kann zerstört, Schuldgefühle können tief verankert, und rigide Über-Ich-Strukturen gefördert werden. Gerade die fundamentalistischen Strömungen in den Kirchen erzielen in diesen innerpsychischen Prozessen oft verheerende Wirkung. Dieses Machtungleichgewicht und dieses spezielle Beziehungsmuster erfordert ein besonders hohes Verantwortungsbewusstsein der Erwachsenen, denn sie können unbemerkt auch zu wirksamen „Grooming“-Strategien werden, also zur Vertrauensgewinnung bei Kindern und Jugendlichen, die oft den Missbrauch strategisch vorbereiten.
Würden Sie sagen, dass Kirchen als Organisationen, die ein religiös-weltanschauliches Selbstverständnis haben, sich hinsichtlich des „institutionellen Narzissmus“, den Sie beobachten, von anderen Organisationen unterscheiden? Schließlich kann sexueller Missbrauch auch in Schulen, Ausbildungseinrichten und allen Institutionen stattfinden, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben.
Eine Institution wie die katholische Kirche hat es über 2000 Jahre geschafft, ihre institutionelle Gestalt zu wahren und zu sichern. In ihrer öffentlichen Präsentation versteht sie es, sich in glänzender Pracht darzustellen. Sie verfügt über ein reiches Erbe eindrucksvoller Kathedralen und Klöster. Jede Messe und jedes Hochamt zeigt Vertreter der Kirche in eindrucksvoller Garderobe. In der Geschichte der Kirche gab es schwere Krisen und es gab Reformphasen, die überstanden wurden, ohne dass sich die Institution insgesamt in Frage gestellt hätte. Gerade in der Krise, die durch die weltweit sichtbar gewordenen sexualisierten Verbrechen an Kindern und Jugendlichen in Institutionen in kirchlicher Trägerschaft aufgebrochen ist, wird ein Handlungsschema erkennbar, das für die Wahrung der institutionellen Kontinuität mit verantwortlich ist. Von Klaus Mertes, dem ehemaligen Direktor des Berliner Canisius-Kollegs, der mit seiner am 20. Januar 2010 verschickten E-Mail einen bundesweiten Skandal um Missbrauch in der katholischen Kirche und anderen Institutionen auslöste, stammt der Begriff des „institutionellen Narzissmus“. Damit wird ein Reaktionsmuster großer Institutionen beschrieben, die im Falle von dramatischen inneren Fehlentwicklungen mit einer intensiven Entschuldungsstrategie ihr positives Selbstbild, ihr Image zu retten versuchen. Mertes verwendet hier den Begriff des Narzissmus und begründet die gewählte Begrifflichkeit so: „Narzissten sind bekanntlich Menschen, die kein Gespür dafür haben, was sie anderen antun, die aber selbst sehr empfindlich sind, wenn man ihnen ein wenig auf die Füße tritt. Sie sehen ihre Täteranteile ungern und fühlen sich im Fall der Fälle lieber als Opfer. Die narzisstische Perspektive gehört zu den Konstanten der Täterprofile im Falle von Missbrauch – bis dahin, dass die Täter selbst denken, sie seien ‚Opfer‘ der Opfer; Opfer von deren Verführungskünsten, oder Opfer des nachträglichen Verrates ihrer einst einvernehmlichen Zuwendung und Liebe. Das Image-Denken ist das institutionelle Pendant zum individuellen Narzissmus. Indem sich die Institution in der Krise des Missbrauchs mit den Image-Fragen befasst, befasst sie sich mit sich selbst und bekommt die Opfer nicht in den Blick – oder sie fallen nach einer kurzen Phase des Schreckens wieder aus der Wahrnehmung heraus. Im Übrigen bestand und besteht der „Schrecken“ ja vornehmlich im Entsetzen über den eigenen Imageverlust, nicht im Schrecken über das Leiden der Opfer. Image-Denken ist tendenziell empathieunfähig.
Die von uns untersuchten Klosterinternate verhielten sich über Jahrzehnte, vor allem auch in den Jahren dramatischer Misshandlungsvorfälle, nach diesem Muster ihres kirchlichen Traditionsverständnisses: Mögliche Skandale mussten hinter den Mauern der eigenen Institution bleiben. Jeder Imageschaden musste vermieden werden. Aber nicht nur nach außen wurde eine Aufarbeitung von Fehlentwicklungen und Verbrechen vermieden, auch das Selbstbild von Innen durfte möglichst keinen Schaden nehmen und deshalb gab es kaum innerinstitutionelle Reflexions- und Bearbeitungsformen.
Wir Säkulare betrachten die Kirchen als Teil der Zivilgesellschaft, mit allen Rechten und Pflichten, und eben nicht als sakrosante Einrichtungen. Hat Ihre Arbeit bezüglich Betreuung der Betroffenen durch die Kirchen einen entsprechenden Rückhalt in der Politik?
Wir hätten uns bei dem Kirchenhearing – ganz in der Nähe des Deutschen Bundestages – schon gewünscht, dass einige Abgeordneten die Veranstaltung besuchen. Sie hätten ja Zeit gehabt, denn angesichts des Merkel-Seehofer-Stücks war politisch ja nichts anderes vordringlich. Immerhin kam die Familienministerin Franziska Giffey und hat in glaubwürdiger Form ihre Unterstützung für die Arbeit des Unabhängigen Beauftragten, des Betroffenenrates und der Aufarbeitungskommission zum Ausdruck gebracht. Sie hat in ihrer noch kurzen Amtszeit mit diesen Gremien intensiv gesprochen. Deren Weiterführung über 2019 hinaus hat sie ganz klar zugesichert. Außerdem hat sie in ihrem Statement auch von den Kirchen gefordert, dass sie sich ihrer Verantwortung auch weiterhin zu stellen haben. Man wird sehen, was aus diesen Absichtserklärungen wird. Die Kommission selber wird die Kirchen weiterhin zu besseren Lösungen drängen. So sind bei dem Hearing eine Reihe von Forderungen aufgestellt worden, die von den Kirchen strukturelle Veränderungen fordern. So wird eine kirchenunabhängige zentrale Meldestelle gefordert, die Menschen bei dem Einklagen ihrer Rechte begleiten sollen. Es sollen transparente Verfahren mit psychosozialer Prozessbegleitung eingerichtet werden, die nicht in administrativer Weise von Kirchenrechtlern abgewickelt werden. Akteneinsicht ist ebenso erforderlich wie die Abschaffung von Verschwiegenheitserklärungen, die Betroffene nach den Anerkennungsverfahren unterschreiben müssen. Von der in viele Landeskirchen aufgesplitterte evangelische Kirche wird eine verbindliche Leitstelle im Bischofsrang gefordert, die die Missbrauchsbeauftragten in den Landeskirchen koordiniert, Qualitätsstandards für deren Tätigkeitsprofil erarbeitet und regelmäßig einen Bericht zu den Aufarbeitungsanstrengungen der evangelischen Kirchen vorlegen soll.
Was kann die Zivilgesellschaft, was können politisch wirkende Gruppen tun, damit Opferschutz Vorrang hat vor „glänzenden Fassaden“ und die nötige Betreuung, Anerkennung wie auch sensible Aufarbeitung in den Institutionen Früchte trägt?
Die Zivilgesellschaft, die Medien und die Politik sollte ihren Kontrollauftrag gegenüber den Kirchen nicht nur dann situativ wahrnehmen, wenn wieder mal ein Skandal in die Öffentlichkeit dringt. Es gibt eine Reihe von kirchlichen und staatlichen Institutionen, die sich zwar jetzt mit Präventions- und Schutzkonzepten plakativ präsentieren, aber nicht dazu bereit sind, die Verbrechen in der eignen Institutionengeschichte aufzuarbeiten. Viele Betroffene warten bislang vergeblich, dass endlich stattfindet. Da ist gesellschaftlicher Druck notwendig. Nötig wäre auch eine gesetzliche Grundlage der Aufarbeitungskommission, dass sie dort investigativ tätig werden kann, wo klare Hinweise auf unbearbeitete Missbrauchsfälle vorliegen.
Das, was Kindern und Jugendlichen an unterschiedlichen Formen von Gewalt zugefügt wurde, steht in eklatanten Widerspruch zu den Grundrechten, die die Verfassung allen Menschen garantiert. Wenn diese Grundrechte verletzt wurden und werden, ist nach der gesamtgesellschaftlichen und politischen Verantwortung zu fragen und es sind die Gründe zu benennen, warum das „Wächteramt“ nicht funktioniert hat. Aufarbeitung kann auf dieser Ebene eine glaubwürdige und öffentlich sichtbare Übernahme der Verantwortung für das erlittene Leid der Betroffenen bedeuten. Nicht immer ist die Republik Österreich vorbildhaft, aber mit einer eindrucksvollen Veranstaltung im Österreichischen Parlament, einem Staatsakt, der als „Geste der Verantwortung“ bezeichnet wurde, hat sie einen Standard gesetzt. Es wurden etwa 300 ehemaligen Heim- und Internatskinder eingeladen wurden und an dem Staatsakt nahm das gesamte Bundeskabinett, die Abgeordneten, die Landeshauptleute und der Wiener Kardinal teil. Politik und Kirche haben hier öffentlich ihr Versagen in der Vergangenheit angesprochen und in glaubwürdiger Form die Verantwortung übernommen. Und das blieb nicht nur Rhetorik, denn einige Monate später hat das Parlament beschlossen, dass alle ehemaligen Heimkinder eine monatliche Zusatzrente von 300 € erhalten. Einen vergleichbaren Staatsakt fordere ich auch für die Bundesrepublik und habe diese Forderung auch Bundespräsident Steinmeier vorgetragen, der im März die Aufarbeitungskommission eingeladen hatte.