Ingrid Matthäus-Maier, unsere Unterstützerin und Sprecherin der Kampagne Gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz (GerDiA), über das wegweisende Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 17. April 2017 zum konfessionellen Arbeitsrecht („Dritter Weg“). Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften dürfen nicht mehr bei allen Arbeitsverhältnissen uneingeschränkte Mitgliedschaft einfordern.
Das jahrelange, kritische Engagement gegen einen kirchlich-religiösen Sonderweg im Arbeitsrecht scheint Früchte zu tragen. Ist das Urteil des EuGH ein überraschender Grund zur Freude, oder zeichnete sich das Ereignis ab?
Wer die Vorgeschichte kennt, für den war das Urteil des EuGH eigentlich nicht überraschend. Ich beschreibe diese Vorgeschichte im Folgenden, um zu zeigen, wie hart der Kirchenlobbyismus bisher jede Änderung bekämpft hat und wie mühselig auch die kleinsten Reformen erkämpft werden müssen:
Am 27. November 2000 wurde die sog. Antidiskriminierungs-Richtlinie (RL) des Rates der EU zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf erlassen. Sie verpflichtete die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von unmittelbarer oder mittelbarer Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung…..Deutschland setzte die RL erst 2006 (!) mit dem sog. AGG (Allgemeines Gleichstellungsgesetz) um. In § 9 AGG wurde den Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften u.a. das Recht zugestanden,“ eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion sei zulässig, wenn eine bestimmte Religion …im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.“ Von all denen, die seit Jahren das Kirchliche Arbeitsrecht („Dritter Weg“) bekämpft hatten, wurde diese Regelung als lobbyistisches Meisterstück der Kirchen und nicht vereinbar mit der RL kritisiert.
So eröffnete die Kommission mit Schreiben vom 31.1. 2008 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland mit folgenden Sätzen zu § 9 AGG:“ Dies ist nicht vom Wortlaut der RL gedeckt. Es würde dazu führen, dass eine Religionsgemeinschaft eine bestimmte berufliche Anforderung allein aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts festlegen könnte, ohne dass diese bestimmte Anforderung in Bezug auf die konkrete Tätigkeit auch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterworfen wäre. Diese Art der Umsetzung entspricht nicht den Vorgeben der Richtlinie.“ Nachdem ich selber nichts mehr von dem Verfahren hörte, habe ich mich an die deutsche Vertretung in Brüssel gewandt mit der Frage, was denn mit dem Verfahren sei. Mir wurde geantwortet, das Vertragsverletzungsverfahren sei von der Kommission am 28.10.2010 eingestellt worden, nachdem die deutsche Bundesregierung zugesichert habe, darauf zu achten, dass der Paragraf „richtlinienkonform ausgelegt würde“. Die Bundesregierung hat offensichtlich nicht darauf geachtet, sonst gäbe es nicht die einschlägigen Fälle.
Wir ließen nicht locker: auf Einladung der European Parliament Platform of Secularism in Politics trugen Corinna Gekeler, eine unermüdliche Kämpferin gegen § 9 AGG, Vera Muth und ich für GerDiA in Brüssel unsere Kritik vor. Die Anwesenden waren überrascht und entsetzt über unsere Berichte vom Dritten Weg in Deutschland.
Nach alledem blieb nur die Hoffnung, dass ein deutsches Gericht §9 AGG im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchen dem EuGH vorlegen würde. Im Fall der Berlinerin Egenberger (s.Einzelheiten in hpd) geschah dies endlich durch das Bundesarbeitsgericht, welches schon mehrfach zugunsten von Klägern gegen religiöse Diskriminierung entschieden hatte, dessen Urteile aber immer wieder vom Bundesverfassungsgericht mit geradezu skandalösen Begründungen gestoppt worden war. Ich bin sehr froh, dass das BAG diesen Weg gewählt hat. So konnte der EuGH 18 Jahre nach Inkrafttreten der RL endlich das wegweisende Urteil fällen.
In Zukunft muss die verlangte Kirchenzugehörigkeit bei Arbeitsverhältnissen gerichtlich überprüfbar sein und für eine Ausgewogenheit zwischen Autonomierecht der kirchlichen Arbeitgeber sowie der Rechte der Arbeitnehmerinnen wie -nehmer gesorgt werden. Was bedeutet das in der Praxis?
In jedem Einzelfall wegen der Ablehnung eines Bewerbers ohne Kirchenzugehörigkeit muss von dem erkennenden Gericht beurteilt werden, ob die vom EuGH für die Ausnahme vom § 9 genannten Kriterien „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ angesichts des Ethos der Organisation erfüllt sind, wobei auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten ist. Die Rechtmäßigkeit der Diskriminierung wegen der Religion hängt also vom objektiv überprüfbaren Vorliegen eines direkten Zusammenhangs zwischen der vom kirchlichen Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit ab. Entscheidend ist als die Nähe zum „Verkündigungsauftrag“. Diese Voraussetzungen müssen jetzt in den einzelnen Arbeitsgerichtsverfahren überprüft und im Zweifel gegen den Wortlaut des § 9 AGG im Sinne der EuGH Rechtsprechung einschränkend zugunsten der Kläger interpretiert werden.
Säkulare Stimmen bedauern, dass es immer Einzelfälle sind, die sich durch alle Instanzen klagen müssen, um auf die strukturellen Missverhältnisse im weltanschaulich-religiösen Arbeitsrecht hinzuweisen. Weshalb warten Politik und auch die Gerichte auf Betroffene, statt etwas zu verändern?
Auch ich habe immer beklagt, dass die Betroffenen oft über viele Jahre klagen müssen, um ihr Recht zu erhalten. Aber Achtung: nicht alle Gerichte haben ja still gehalten. Viele Untergerichte und auch das BAG haben ja zugunsten der Betroffenen entschieden. Sonst hätte der EuGH ja nicht die Chance erhalten, so zu urteilen, wie er es getan hat !! Das klerikale Bollwerk war in den meisten Fällen das Bundesverfassungsgericht.
Und was die Politik angeht, so liegt die Antwort darin, was Carsten Frerk in seinem Buch beschreibt: Wir sind nach wie vor eine „Kirchenrepublik“. Man denke nur daran, dass von den neuen Regierungsmitgliedern nur 3 die Möglichkeit wahrgenommen haben, bei der Vereidigung die religiöse Formel wegzulassen, 3 Sozialdemokraten.Innen. Wie oft habe ich auch von SPD- Mandatsträgern gehört, dass sie die Verwerfungen im Kirchlichen Arbeitsrecht für ganz unmöglich halten, aber der Meinung waren, „das müssten der Kirchen selber regeln“. Wieso eigentlich? Wieso lässt es eine Partei, die sich wie keine andere der Gerechtigkeit verschrieben hat, zu, dass Betroffenen der Weg zur Gerechtigkeit derart erschwert wird wie Konfessionsfreien oder auch den 1,2 Mio Mitgliedern in kirchlichen Einrichtungen? Und das, obwohl der SPD-Bundesparteitag im November 2013 eine Reform des Kirchlichen Arbeitsrechts beschlossen hat (incl Streikrecht, und die Geltung des Betriebsverfassungsgesetzes für die dort Arbeitenden). Wie lange will die SPD noch darauf warten, dass ihr immer mehr von den 36 % der Konfessionsfreien in diesem Lande weglaufen?
Spätestens jetzt nach der Entscheidung des EuGH müsste die SPD-Fraktion tätig werden. Angst vor der Kritik der Kirchen gilt nicht, denn gibt es doch auch innerhalb der Kirchen genügend Menschen, die die jetzige Situation im Kirchlichen Arbeitsrecht schon seit langem für reformbedürftig halten.
Du betonst oft die individuellen Interpretationsspielräume der jeweiligen Zuständigen bei Diakonie, Caritas und anderen Einrichtungen. Sind diese Ausnahmen Teil der Regel, oder findet ein Umdenken statt, nicht zuletzt aufgrund von 35-36% Konfessionsfreier in Deutschland?
Ich kenne mehrere Fälle, bei denen die Zuständigen sich liberaler verhalten haben als die Amtskirchen, z.B. bei Austritten aus der Kirche. Mit Sicherheit hat das etwas damit zu tun, dass die Kirchen für ihre sozialen Organisationen nicht mehr genügend Menschen finden, die den Anforderungen der Amtskirchen und ihrer Richtlinien entsprechen. Außerdem wissen wir doch, dass nicht alle kirchlichen Vorgesetzten solche Sturköpfe sind wie die Offiziellen. Da die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass die Amtskirchen nie auf eine Rechtsposition freiwillig verzichtet haben, muss jetzt die Politik handeln.