Von Lale Akgün [Erstveröffentlichung in „Wissenswert. Werte. Wissenschaft. Medien“, 2017]
- Problemstellung – warum Säkularität so wichtig ist
Monotheistische Religionen erheben für sich einen Absolutheitsanspruch. Sie leben davon, dass ihre Anhänger an den EINEN und einzig wahren Gott glauben – und jede Religion hat dafür ihre eigene Interpretation. Deswegen sind multireligiöse Gesellschaften besonders anfällig für Konflikte. Die Globalisierung und die zunehmende Migration seit Mitte des letzten Jahrhunderts haben aus homogenen Gesellschaften multikulturelle und multireligiöse gemacht. Die Begegnung der Religionen und Kulturen hat eben nicht nur zur Bereicherung beider Seiten geführt, sondern auch zu Ablehnung und Hass.
Die einzige Möglichkeit, diese Konflikte zu minimieren, liegt in der Säkularität der Gesellschaft. Der Staat hat dabei Äquidistanz zu allen Religionen zu halten und durch ein allgemeingültiges Rechtssystem alle Bürgerinnen und Bürger gleich zu behandeln. Als weiterer wichtiger Faktor kommt noch die abnehmende Religiosität insgesamt hinzu. Allein in Deutschland bezeichnen sich über 30% der Bevölkerung als religionsfrei, in Großstädten ist diese Zahl noch höher. In Berlin z.B. erreicht sie über 70%. Den Erwartungen und Anforderungen all dieser Gruppen gerecht zu werden und gleichzeitig den sozialen Frieden zu erhalten ist eine der größten Herausforderungen des modernen Rechtsstaats.
- Der Islam als Einheit von Religion und Staat
Nach dem Verständnis des orthodoxen Islam gibt es keine Trennung zwischen Staat und Religion.[1] Und es ist dieser orthodoxe Islam, der in allen Ländern mit muslimischer Mehrheit von offizieller Seite vertreten wird. Der einzige halbwegs laizistische Staat der islamischen Welt, die Türkei, ist gerade dabei, sich in einen Staat mit Staatsislam zu verwandeln.
Nach den gängigen islamischen Vorstellungen ist Gott der Souverän, und es gibt unveränderliche göttliche Gesetze, die über staatlichen Gesetzen stehen. Nach diesen Vorstellungen werden der Koran und die Scharia den von Menschen gemachten staatlichen Gesetzen übergeordnet.
Auch die Christen sehen in Gott das höchste Wesen, auch für sie gibt es unveränderliche göttliche Gebote. Diese Gebote stehen aber nach christlicher Vorstellung nicht im Gegensatz zu der menschlichen (staatlichen) Gesetzgebung.
Dazu kommt das umfassende und vielfach als zeitlos betrachtete Vorbild des Propheten als religiöser Führer, Gesetzgeber, Richter und Feldherr. Nach diesem orthodoxen Islamverständnis gilt alles, was Mohammed gesagt hat, als nicht zu hinterfragende Offenbarung Gottes (Sunna). Zwar führen Menschen den Staat, aber nach unveränderlichen göttlichen Gesetzen.
Bei den Sunniten ist es der Kalif, der Stellvertreter Mohammeds, der den Staat nach den Richtlinien des Propheten Mohammed und auf der Grundlage des Korans, regiert.
Das Kalifat stellt somit eine Regierungsform dar, in der die weltliche und die geistliche Führerschaft bei der Person des Kalifen liegen. Der Kalif ist dabei sowohl der Führer der religiösen Bewegung, wie auch der Herrscher in dem Machtbereich. Über dem Kalifen steht allein das religiöse Gesetz, die Scharia.
Bei den Schiiten sorgt der Klerus vilayat-e-fatiq (die Statthalterschaft der Rechtsgelehrten) – für die „richtige“ Auslegung der Scharia. Bekanntlich werden im Iran zwar Regierungen gewählt, aber sie bleiben immer unter der Aufsicht der Ajatollahs.
Ab dem 13. Jahrhundert beanspruchten unterschiedliche muslimische Herrscher den Titel des Kalifen, ab dem 16. Jahrhundert jedoch – mit dem Aufstieg des osmanischen Reiches zur Weltmacht – führten dann die Osmanen das Kalifat, aber erst 1774 tritt der osmanische Sultan Abdulhamid I. als Kalif auf – mit dem Anspruch, als Oberhaupt der gesamten sunnitischen Welt respektiert zu werden. Dabei spielten politische Gründe, u.a. der Versuch, dem fortwährenden Machtverlust des osmanischen Reiches etwas entgegenzusetzen, eine größere Rolle als der religiös-theologische Inhalt.
1876, als der Untergang des osmanischen Reiches nicht mehr aufzuhalten war, wurde der Anspruch auf das allislamische Kalifat in der neu eingeführten Verfassung des Osmanischen Reiches von dem Sultan Abdulhamid II. festgeschrieben. Eine Verzweiflungstat, um vor allem gegenüber der westlichen Welt nicht vorhandene Macht zu demonstrieren.
Das Kalifat mag sich auf den Propheten Mohammed und den Koran berufen, letztendlich ist es nichts anderes, als der Versuch, die weltliche Macht mit der göttlichen zu unterfüttern. Nicht von ungefähr beruft sich der türkische Präsident Erdogan vor allem auf Abdulhamid II., wenn er sich als Beschützer aller Muslime aufspielt. Dazu ein Zitat von Erdogan:
„Man kann entweder ein Laizist sein oder ein Moslem, beides zusammen geht nicht. Warum nicht? Wenn Du ein Moslem bist, dann weißt Du, dass die Macht dem Schöpfer der Muslime, Allah, gehört. Es heißt ja immer „Die Macht gehört ohne Wenn und Aber dem Volk“ (M. Kemal Atatürk), das ist falsch! Die Macht gehört ohne Wenn und Aber Gott!“ [2]
Diese Worte Erdogans sollte man wohl nicht als Zeichen der Gläubigkeit verstehen, sondern als den Versuch und die Anmaßung, als geistlicher und politischer Führer der islamischen Welt aufzutreten.
Heute spricht man vom „politischem“ Islam, um ihn gegen den persönlichen Glauben des Einzelnen abzusetzen, man verkennt jedoch, dass der so genannte politische Islam – also der ideologisierte Islam – weder mehr noch weniger ist als das aktuelle (moderne) Gesicht des orthodoxen Islam. Deswegen ist es sowohl eine Selbsttäuschung als auch der Versuch, die westliche Welt zu beruhigen, wenn Muslime sich vom „politischen“ Islam distanzieren, vor allem mit dem Ziel, dass die Nicht-Muslime dem orthodoxen Islam den roten Teppich ausbreiten. Wer die Salafisten als undemokratisch anprangert, aber mit der vom türkischen Staat dienstbar gemachten DITIB in Deutschland zusammenarbeitet, lügt sich in die eigene Tasche. Auch wenn es durchaus Unterschiede gibt, werden wir sehen, dass sie alle der gleichen Ideologie entstammen. Die hier relevante Frage ist, ob sich die jeweiligen Gruppen als dschihadistisch (gewaltbereit) oder nicht-dschihadistisch verstehen, wobei auch da die Übergänge fließend sind.
Die wichtigsten Vertreter des politischen/ideologischen/orthodoxen Islam von heute sind die Muslimbrüder und die Salafisten. Beide Gruppen haben große inhaltliche Übereinstimmungen. Dabei bildet die Ideologie der Muslimbruderschaft – 1928 von Hasan al-Banna in Ägypten als Verein gegründet, die Grundlage für den politischen Islam. Mit einem Netz von Ablegern in über 70 Ländern sind die Muslimbrüder Teil des politischen Prozesses.
Auch die Salafisten haben sich im 20. Jahrhundert erfunden. Der Islamwissenschaftler Henri Lauziere[3] führt aus, dass das Konzept der „frommen Altvorderen“ Mitte der 1920er Jahre mit dem Aufbau der Salafiyya-Buchhandlung von Muhibb ad-Dīn al-Chatīb in Mekka begonnen habe. Diese Buchhandlung habe als Zentrum der Verbreitung wahhabitischer Ideen gedient, die fortan als „salafitisch“ bezeichnet wurden.
Festzuhalten ist: der politische Islam, wie wir ihn heute kennen, der ein theokratisches System befürwortet und sich dabei auf Gott und den Koran beruft, ist vor allem eine Konstruktion des 19. und 20. Jahrhunderts und eine Reaktion auf den weltlichen Machtverlust der Herrschenden in der islamischen Welt. Die Religion wird so ausgelegt, dass sich damit ein Machtanspruch für weltliche Herrscher ergibt. Trotz ihres Versagens. Es ist eine Instrumentalisierung des Islam, um den Status Quo zu erhalten und die Massen über die Religion an sich zu binden.[4]
Unterschlagen wird dabei das Verschlafen der Aufklärung und der Moderne seit über 400 Jahren in der islamischen Welt. Dieses Beharren auf dem Status Quo fällt heute den Muslimen sozusagen auf die Füße. Und immer noch werden die Verursacher des Übels woanders gesucht als in den eigenen Reihen: Die USA, der Westen, Israel, die jüdische Lobby sind vielbenutzte Feindbilder, die von den erbärmlichen Zuständen in der islamischen Welt ablenken sollen.
So wundert es nicht, dass auch heute – statt Bildung, gesellschaftliche Öffnung und Menschenrechte umzusetzen – auf Propaganda, Fundamentalismus und Opferrolle gesetzt wird – und auf ein fast trotziges Festhalten an überholten Lebensweisen, mit dem man ganz sicher nicht die Länder und die Bevölkerung für das 21. Jahrhundert fit macht. Die wichtigste Voraussetzung dafür wäre, den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt des Denkens zu setzen. Stattdessen bleibt man bei dem Konzept, dass „der Islam“, so wie man ihn versteht, im Mittelpunkt des Denkens stehen müsse.
Beispielhaft für dieses Denken sei hier Said Qutb[5] zitiert, der Vordenker der Muslimbrüder der „alle Arten von Systemen, die auf dem Konzept der Souveränität des Menschen basieren“ als widerrechtliche Aneignung von göttlichen Eigenschaften ablehnt.
Abgelehnt werden auch die UN-Menschenrechte als „säkulare Interpretation der jüdisch-christlichen Tradition“ (Rajale-Khorassani, 1984 bei der 36. UNO-Generalversammlung).
Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte[6] (KEM), am 4. August 1990 von den 45 Außenministern der OIC, Organisation of Islamic Conference, unterzeichnet, zeigt in aller Deutlichkeit auf, welche Entwicklung der politische Islam in den letzten 100 Jahren genommen hat. Es wird eine konzeptionelle Leitlinie für die Mitgliedsstaaten aufgebaut, von denen die meisten die Scharia als Haupt- oder einzige Quelle für die Gesetzgebung anerkennen.
Schon die Präambel, die die islamische Umma als „die beste Nation, die von Gott geschaffen wurde“ tituliert, verweist auf zwei wichtige Annahmen, die auch uns im Westen etwas angehen:
- Die angenommene Gemeinschaft aller Muslime, die muslimische Umma, wird als eine Einheit gesehen und steht im Mittelpunkt des Denkens.
- Der Islam (in diesem Fall seine politischen Führer) erhebt politischen Anspruch auf die Muslime in allen Ländern der Welt.
Hasan Nasrallah, Generalsekretär der Hisbollah, formuliert es so: „Wir glauben an eine einzige islamische Welt, die durch eine einzige Regierung gesteuert wird, weil wir alle Grenzen in der islamischen Welt als künstlich und kolonialistisch ansehen – die aus diesem Grund zum Scheitern verurteilt sind.“
Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte ist ein wichtiges Dokument. Zeigt sie doch, wie die islamischen Staaten Menschen und ihre Rechte verstehen: nach den Vorstellungen der islamischen Machthaber unterstehen alle Rechte und Freiheiten der Scharia. Sie ist die einzige zuständige Quelle für die Auslegung jedes einzelnen Artikels der Erklärung.
- Es gibt danach zwar das Recht auf Leben „außer, wenn es die Scharia anders verlangt“.
- Das Recht auf Meinungsfreiheit ist gegeben „soweit es die Grundsätze der Scharia nicht verletzt“.
- Das Recht auf Freiheit der Kunst und Wissenschaft, selbstverständlich unter Scharia-Vorbehalt.
- Die Frau ist dem Mann „an Würde“ gleich, aber nicht gleichberechtigt.
- Die Umsetzung der koranischen Vorgaben (Erbrecht, Heirat und Scheidung, Züchtigung) sind abhängig von der Auslegung der Scharia.
- Das Recht auf Religionsfreiheit wird dadurch eingeschränkt, dass der Islam als „die Religion der reinen Wesensart“ bezeichnet wird, d.h. es gibt keinen Grund, sich vom Islam abzuwenden und schon gar keinen, den Islam zu kritisieren.
- Ein vielbenutztes Wort: Scharia[7]
In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf den Begriff „Scharia“ eingehen, der in aller Munde ist, aber oft genug verkürzt benutzt wird. Scharia mag im Wortsinn „der Weg zur Quelle“ bedeuten, heute wird sie oft als „das islamische Recht“ verstanden. Scharia ist nach den Vorstellungen des orthodoxen Islam gottgegebenes Recht, offenbart in Koran und Sunna und als Werteordnung gültig für alle Zeiten und Orte. Die Scharia enthält die Gesamtheit der Gesetze (eben der göttlichen Gebote), durch die alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens im Islam geregelt werden. Im Koran kommt der Begriff „Scharia“ nur einmal vor: „Wir gaben den Kindern Israels die Schrift, und Herrschaft und Prophetentum, und wir versorgten sie mit guten Dingen und bevorzugten sie vor den Völkern… Dann brachten wir dich auf einen klaren Pfad in der Sache des Glaubens. So folge ihm und folge nicht den Neigungen derer, die nicht Bescheid wissen.“ (Sure 45, Vers 18).
Nach dem Verständnis des orthodoxen Islam ist die Scharia perfekt, nach dem Verständnis der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) stehen Teile des islamischen Rechtssystems im Widerspruch zu den Menschenrechten[8]. Im Gegensatz zu der Scharia ist das Wort „Fiqh“ im Westen relativ unbekannt. Mit Fiqh bezeichnet man die Rechtswissenschaft zur Auslegung der Scharia. Das Rechtssystem Fiqh wird von muslimischen Rechtsgelehrten unter Verwendung des Analogieschlusses und per Rückgriff auf den historisch begründeten islamischen Konsens aus dem Koran und den Überlieferungen abgeleitet. Fiqh ist kein starres Rechtssystem, sondern wird von den Islamgelehrten immer wieder neu gestaltet. Jedoch ist der Spielraum begrenzt: der Souverän bleibt immer Gott, und die Grundlage ist der Koran als Gottes Wort.
Als Fiqh-Staaten werden die Staaten bezeichnet, in denen der Islam Staatsreligion ist, jedoch verkündet jeder dieser Staaten seine eigene Auslegung dieser göttlichen Ordnung. Die Auslegung des Koran, „Idschdihad“ genannt, ändert sich – je nachdem, welche Konfession und welche Kultur vorherrschen, oder auf welcher Fortschrittsstufe sich das Land befindet. Trotzdem: wer in einem Land mit Staatsislam lebt, ist dem Zwang der Gesetze unterworfen, die sich auf eine göttliche Ordnung berufen und damit der Unberechenbarkeit. Nicht nur, dass sich die Auslegung der Scharia jederzeit ändern kann. Diese Länder sind keine Rechtsstaaten, weil sie ihren Bürgern nicht das gleiche Recht zukommen lassen, Muslime sind per Gesetz (=Scharia) bevorzugt.
Die OIC hat heute 57 Mitglieder. Darunter sind:
- Länder, in denen die Scharia keine Rolle im Rechtssystem spielt, z.B. Türkei oder Bosnien;
- Länder mit säkularem Rechtssystem, in denen die Scharia im Privatrecht (z. B. Ehe, Scheidung, Erbrecht, Sorgerecht) Anwendung findet, z.B. Marokko, Indonesien oder Ägypten;
- Länder mit voller Gültigkeit der Scharia, z.B. Iran, Pakistan, Saudi-Arabien;
- Länder mit regional unterschiedlicher Anwendung der Scharia, z.B. Nigeria oder Indonesien.
- Vereinbarkeit von Islam und Demokratie oder Islamische Demokratie?
Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie mit der „islamischen Demokratie“ gleichzusetzen.[9]
Ist der Islam mit Demokratie vereinbar oder nicht? Um es vorwegzunehmen: natürlich ist der Islam mit Demokratie vereinbar, wenn der Islam als persönlicher Glaube betrachtet wird und nicht als Staatssystem oder System einer Lebensweise, das alles regelt.
Etwas anderes ist es, wenn von einer „islamischen Demokratie“ gesprochen wird. Die Ziele und die politischen Vorstellungen der einzelnen islamischen Demokratien mögen – wie oben ausgeführt – unterschiedlich sein, über die folgenden Punkte herrscht jedoch bei allen Gruppen Konsens:
- Der unantastbare Kern der islamischen Identität, eine von den islamischen Organisationen konstruierte Identität, die global von der Umma, der Gemeinschaft aller Muslime geteilt werden und über allen anderen Identitäten stehen soll.
Damit eng verbunden:
- Der „islamische“ Staatsbürger versus „the others“, und folglich die Ungleichbehandlung von Muslimen und Nicht-Muslimen – wobei die Frage, wer Muslim ist und wer zu den „anderen“ gehört, von den islamischen Gruppen selbst beantwortet wird.
- Umsetzung der Scharia
- Ein zutiefst konservatives Verständnis der Rolle der Frau und der öffentlichen Moral
- Anti-Zionismus, – eine Anti-Israel-Haltung.
Diese oben genannten Punkte eines islamischen Demokratie- und Gesellschaftsverständnisses gibt es nicht nur in islamischen Ländern. Wenn salafistische Aktivisten wie Sven Lau mit Signalwesten mit der Aufschrift „Shariah Police“ im Eingangsbereich von Spielhallen und Gastwirtschaften gegen Glücksspiel und Alkohol wettern und dabei Muslime drangsalieren – so geschehen im September 2014 in Wuppertal –, werben sie damit demonstrativ für die Scharia und ihre Vorstellungen von einer „islamischen Demokratie“. Dieses Verständnis unter den konservativen Muslimen in Europa führt zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft und zur (Selbst)-Isolation der Muslime. Oft unsichtbar, es muss ja nicht jeder so demonstrativ auftreten wie die Shariah Police. Das gebetsmühlenartige Sprechen von der Umma als wichtigstem Bindeglied soll die Konstruktion des „islamischen Staatsbürgers“ weiter unterstützen und dient letztlich dem Machterhalt der Islamisten – indem Muslime von den anderen Bürgerinnen und Bürgern getrennt werden. Diese Separierung ist nicht nur rhetorische Apartheidpolitik, sondern auch ein einträgliches Geschäft – gerade in der „Diaspora“ in Europa. Vom Lebensmittelladen des Moscheevereins bis zu islamischen Bestattungsmonopolen; von islamischer Kleidung bis zum islamischen Bankwesen; von „Integrationsprojekten“ der Moscheevereine bis hin zu Fitnessstudios und Badetagen nur für muslimische Frauen – das Geschäft mit dem Islam ist sehr einträglich. Die Segregation der orthodoxen Muslime ist eine religiöse Marktnische für deren Anführer.
In letzter Zeit ist viel die Rede von der Reform des Islam. Kritische Muslime haben sich zusammengetan, um dem Islam neue Impulse zu geben und den Islam so zu gestalten, dass er Antworten auf die aktuellen Fragen der Gesellschaft geben kann.
Ziel der reformfreudigen Muslime ist es: in erster Linie:
- Die Trennung von Staat und Religion als Grundüberzeugung durchzusetzen
- Den Islam in Einklang mit den Menschenrechten und der Frauengleichstellung zu bringen.
- Letztlich den Islam mit Demokratie zu vereinbaren.
Diese Ziele sind sicherlich sehr lobenswert und auch sehr erfreulich. Problematisch ist es aber, dass sie nur von einer winzigen Minderheit vertreten bzw. zur Kenntnis genommen werden. Reformfreudige Muslime und ihre neuen Versuche – wie die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee[10] von Seyran Ates in Berlin – werden zwar in den deutschen Medien hochgejubelt und von der deutschen Politik gelobt, aber innerhalb der muslimischen Bevölkerung erzeugen sie wenig Resonanz – von muslimischen Verbandsvertretern werden sie, wie es scheint, vorwiegend ignoriert. Das hat viele Gründe.
In seinem Buch „Islam in der Krise[11]“ beschreibt Michael Blume diese Entwicklung sehr treffend. Gerade weil der orthodoxe Islam so rigide ist und keinerlei Kritik am Status Quo erträgt, verabschieden sich große Teile der Muslime leise aus dem Islam, ohne sich mit Kritik, Reformvorschlägen oder gar Abfall vom Islam hervorzutun. Nicht zu Unrecht haben Kulturmuslime Scheu vor der geballten Macht der Orthodoxen. Und da die überall sind, kann es unangenehme Konsequenzen haben, sich kritisch mit dem Thema Islam auseinanderzusetzen.
„Würde man beim Islam in Deutschland das gleiche, strenge Kriterium anlegen wie beim Christentum, wären nur noch etwa 20 Prozent der Muslime zu zählen, …die Anzahl der „Muslime“ würde auf etwa eine Million Menschen und nicht einmal zwei Prozent der deutschen Bevölkerung schrumpfen.“ Michael Blume nennt es „das Phänomen des stillen Rückzugs“. Dem kann man nicht ernsthaft widersprechen. So bleiben vor allem die orthodoxen Muslime und ihre Ideologien sichtbar. Nicht nur in Moscheevereinen, sondern auch an deutschen Hochschulen, mit Wissenschaftler, die sich als Gralshüter des orthodoxen Islam verstehen. Einer von ihnen ist Bülent Ucar, Professor für Religionspädagogik in Osnabrück. Er hat einen Beitrag zum Thema „Islam und Verfassungsstaat vor dem Hintergrund der Scharia- Regelungen[12]“ geschrieben und an diesem Artikel wird das ganze Dilemma des orthodoxen Islam deutlich: er kann sich nicht von der Scharia emanzipieren.
Prof. Ucar bricht in seinem Artikel eine Lanze für die Scharia als untrennbarer Teil der Religion. „Als ganzheitliche Religion sieht der Islam keine prinzipielle Trennung der unterschiedlichen Sphären des menschlichen Lebens in das Religiöse und das Weltliche vor. Die Welt stellt das Saatfeld für das Jenseits dar, ist eins und lässt sich nicht ohne weiteres künstlich in zwei verschiedene Bereiche aufteilen“.
Nach den Vorstellungen von Prof. Ucar ist die Praxis der Scharia für die Muslime unabdingbar, um im Jenseits belohnt zu werden.
Es ist einem Theologieprofessor unbenommen, auch wortwörtlich an seine Religion zu glauben. Wenn er jedoch daraus schließt, man könne, ja man MÜSSE das islamische Recht auch in säkularen Rechtsstaaten anwenden, ist das mehr als diskutabel.
Beispiel Schule. Die öffentliche Schule ist ein staatliches Organ und ihr Prinzip lautet: Schule ist verbindlich für alle. Ucar hingegen stellt ihre Anforderungen, wie zum Beispiel die verbindliche Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht als einen Ausdruck islamophoben Verhaltens dar.
„Auf allgegenwärtige Brennpunkte von Scharia und Verfassungsstaat trifft man beispielsweise in der berühmten Kopftuchdebatte, bei der Teilnahme am koedukativen Sport- und Schwimmunterricht, der Einhaltung der rituellen Gebete während der Schul- oder Arbeitszeit etc. Durch diese offen praktizierte Religiosität scheinen sich einige Religionskritiker schon in ihrer Identität angegriffen zu fühlen und möchten Religion einschränken, sie ins Private verweisen.“
Übrigens sollte in dem Zusammenhang kurz erwähnt werden, dass an keiner Hochschule in der arabischen Welt, nicht in Gaza, nicht in Ägypten, Gebete während des Unterrichts erlaubt sind. Schule ist Schule, Gebet ist Gebet.
Letztlich weist Ucar die Regeln des Rechtsstaats zugunsten eines religiösen Staatsverständnisses für die Muslime zurück und ist, so scheint es, der Meinung, dass sich diese nicht an die Regeln des säkularen Staates halten müssen.
„Bekennende Muslime können folglich ihren Glauben im Leben nicht hintenanstellen oder gar verheimlichen, auch und besonders nicht zugunsten eines säkularen, Religion nivellierenden Umgangs miteinander.
Diese ungünstige Verwicklung von Staat und Religion und das damit verbundene islamische Unbehagen gegenüber einer Trennung von Religion und Staat wird schwer zu lösen sein.“
Deklariert Prof. Ucar die Muslime damit zu Bürgern der muslimischen Umma, für die anderen Regeln gelten sollen? Oder hat er den Umgang des osmanischen Reiches mit seinen religiösen Minderheiten im Blick? Das sogenannte Millet(=Religionsgemeinschaft) -System, wonach die anerkannten Religionsgemeinschaften ihr Zivilrecht selber regeln konnten, dafür aber an anderer Stelle der Scharia unterworfen, nicht gleichberechtigt mit den Muslimen waren.[13]
- Mehr Säkularität wagen
Diese Zeiten sind vorbei. Der Charme des Rechtsstaats, in dem wir heute leben, liegt in der absoluten Gleichbehandlung aller seiner Bürgerinnen und Bürger.
Da der Staat von seinen Beamten repräsentiert wird, müssen auch diese während der Amtshandlungen frei von religiösen Symbolen sein, kein Kopftuch im Dienst, keine Kippa und kein Turban.
Da der Staat Äquidistanz zu allen Religionsgemeinschaften halten muss, kann er nicht der einen Gruppe verweigern, was er der anderen zugesteht. Angesichts der Zahlenentwicklung bezüglich konfessionell gebundener Bürgerinnen und Bürger und angesichts der Rolle, die Religionsgemeinschaften noch innehaben, sollte auf lange Sicht darüber nachgedacht werden, sich vom System der staatlichen Verträge mit den Religionsgemeinschaften in Gänze zu verabschieden, statt den muslimischen Verbänden die gleichen Rechte zu zugestehen.
Wir sollten keine „Moschee-Steuer“ einführen. Der Staat braucht kein besonderes Verhältnis zu den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, die bestehenden Gesetze reichen aus, um das Verhältnis von Staat und Kirchen zu regeln.
Der öffentliche Raum steht zwar allen Religionen frei, er steht aber eben auch allen Konfessionslosen frei. Die Balance zwischen den unterschiedlichen Überzeugungen der Bürger muss gehalten und jedem Bürger das Recht auf freie Entfaltung gegeben werden.
Unser Grundgesetz schützt das Individuum, nicht die Umma. Unser Grundprinzip ist die Religionsfreiheit des Einzelnen. Jeder Bürger, jede Bürgerin kann sich in einer offenen Gesellschaft einer, keiner oder wechselnden Religionen wie Weltanschauungen zugehörig fühlen. Das schließt auch die negative Religionsfreiheit und den Religionswechsel mit ein. Jeder Bürger hat das Recht, frei von Religion und religiösen Ritualen zu leben. Und es ist ihm auch freigestellt, von der „Religion der reinen Wesensart“ zu einer Religion der unreinen Wesensart zu wechseln, wenn er das möchte. Der Staat muss einen atheistischen Ex-Muslim ebenso schützen wie einen Konvertiten. Die Arbeitszeit ist gesetzlich geregelt, daran muss sich jeder Arbeitnehmer halten, Gebete sind Privatsache, also müssen sie in der Freizeit verrichtet werden. Religiöse Praktiken müssen ins Private verwiesen werden, nicht weil sich Religionskritiker durch religiöse Rituale in ihrer Identität angegriffen fühlen, sondern weil gleiches Recht für alle herrschen muss. Wo käme ein Arbeitgeber hin, wenn er allen Religionsgruppen die Möglichkeit des Gebetes während der Arbeitszeit gestatten würde?
Um es zusammenzufassen: Oben sticht unten: religiöse Gesetze aller Religionen müssen sich den weltlichen Gesetzen unterordnen, die dann auch für alle gelten. Ein Beispiel: die katholische Kirche akzeptiert im Allgemeinen keine Scheidung und Wiederverheiratung, der Islam akzeptiert unter bestimmten Voraussetzungen die Polygynie. Für den Rechtsstaat ist beides irrelevant. Das bürgerliche Gesetz kennt nur die Monogamie und akzeptiert die Scheidung und die Wiederverheiratung. Und das für alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen.
Das nennt man Säkularität und Rechtsstaatlichkeit. Das eine geht nicht ohne das andere.
[1]https://www.bpb.de/apuz/26670/religion-und-politik-in-der-islamischen-welt?p=all
[2] https://www.youtube.com/watch?v=OLwNLqE97Vo
[3] Henri Lauzière: „The Construction of Salafiyya: Reconsidering Salafism from the perspective of conceptual history“ in International Journal of Middle East Studies 42 (2010) 369-389.
[4] http://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/36339/islamismus-was-ist-das-ueberhaupt?p=1
[5] Imad Mustafa: Der politische Islam. Zwischen Muslimbrüdern, Hamas und Hizbollah. Promedia. Wien, 2013
[6] https://www.humanrights.ch/upload/pdf/140327_Kairoer_Erklaerung_der_OIC.pdf
[7] Thomas Schirrmacher(Hrsg.), Christine Schirrmacher: Die Scharia, Recht und Gesetz im Islam, Hänssler. Holzgerlingen. 2007
[8] https://www.igfm.de/scharia/
[9]Petra Ramsauer: Muslimbrüder, Molden. Wien.2014
[10] https://www.ibn-rushd-goethe-moschee.de/
[11]Michael Blume: Islam in der Krise, Patmos. Ostfildern. 2017
[12]Islam und Verfassungsstaat vor dem Hintergrund der Scharia- Regelungen, in: L. Häberle, J. Hattler (Hrsg.), Islam-Säkularismus – Religionsrecht, Springer. Berlin. 2012
[13] Fatih Öztürk, the Ottoman Millet System, http://dergipark.gov.tr/download/article-file/12937,