Eine Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland erleben sexuelle
Gewalt bevor sie 18 Jahre alt sind. Das bedeutet in jeder Schulklasse
sitzen ein bis zwei Betroffene. Eine Zahl, die auf den ersten Blick
überrascht, dann ratlos macht, fassungslos, wütend.
Matthias Katsch, selbst Opfer sexuellem Missbrauchs als Schüler des katholischen Canisius-Kollegs Ende der 70er Jahre in Berlin und 2010 Gründer und Sprecher der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“, hat mit seinem Vortrag zum sexuellen Missbrauch (nicht nur) in den Kirchen auf unserem Bundestreffen in Berlin die Bedeutung und Auswirkungen eines Themas unterstrichen, das in der Öffentlichkeit zwar immer wieder „aufploppt“, aber gerade wenn es um kirchliche Täter geht, weit davon entfernt scheint gänzlich aufgeklärt, juristisch geahndet oder gar gesellschaftlich aufgearbeitet zu werden. Der zweite Skandal, der den Missbrauchsfällen folgt. Bei dem Wort „Aufarbeitung“ denke ich an die NS-Zeit in Deutschland.
Auch Katsch zitiert Theodor W. Adorno, der 1960 schrieb, „aufgearbeitet
wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen
beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis
heute nicht gebrochen.“ In diesem Sinne unterstützen auch wir Säkulare
Sozis die Forderung der Betroffenen nach umfassender Aufarbeitung der
Missbrauchsfälle, um zu verhindern, dass sich diese Verbrechen wiederholen. Dazu braucht es zwingend eine gesetzliche Grundlage mit mehr staatlichen Befugnissen als sie die bisherige Unabhängige Kommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs bislang hat. Missbrauch in Kirchen und kirchlichen Einrichtungen muss von staatlichen Justizorganen aufgeklärt und geahndet werden. Die Regelung solcher Verbrechen darf nicht den Täterorganisationen überlassen werden.
Die meisten Opfer schaffen es erst als Erwachsene über die Taten zu
sprechen, also oft erst zehn, 15 oder gar 20 Jahre später. Zu lange für die
kurzen Verjährungsfristen, die in Deutschland gelten. Viele Täter sind
zudem bereits verstorben. Auch hier muss der Gesetzgeber im Sinne der
Opfer handeln. Wenn diese wie Matthias Katsch von Entschädigungen sprechen, denken sie nicht allein an Geld für persönlich erfahrendes Leid, sondern auch an Präventionsmaßen innerhalb der betroffenen Institutionen.
Nur eine umfassende Aufarbeitung aller sexuellen Missbrauchsfälle hilft,
die Kinder von heute und morgen zu schützen. Machen wir uns bewusst,
dass sexueller Missbrauch nicht nur ein individuelles Schicksal ist, sondern
auch ein gesellschaftlicher Skandal.
Susanne Petersen