Die Caritas hat mit ihrer Ablehnung eines bundesweiten Tarifvertrags für die Pflege bewiesen, dass die Sonderstellungen der Kirchen im Arbeitsrecht negative Folgen für Flächentarifvereinbarungen und letztendlich die Beschäftigten in den sozialen Einrichtungen haben. An den Verhandlungen beteiligte Gewerkschaften kritisieren die Haltung des christlichen Wohlfahrtsverbandes scharf.
„Das ist ein bitterer Tag für die Beschäftigten in der Pflege“, kritisierte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel das Votum der Caritas. Der christliche Wohlfahrtsverband lehnt eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung des von ver.di und der Bundesvereinigung der Arbeitgeber (BVAP) ausgehandelten Tarifvertrags für die Altenpflege ab. „Damit ist heute die große Chance vertan worden, die Arbeit in der Pflege nachhaltig aufzuwerten.“
Quelle: DGB.de
Eine Einigung zwischen Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften hätte ab August 2021 für Mindestentgelte und eine bessere Absicherung der Beschäftigten gesorgt.
Diese tariflichen Verbesserungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen in der Pflege, wollte die Caritas nicht mittragen und hat damit eine bundesweite Regelung verhindert, denn gesetzlich müssen die Arbeitsrechtskommissionen der Kirchen in den entsprechenden Branchen einer einheitlichen Regelung zustimmen. Der Sonderstatus der Kirchen ist an dieser Stelle weder mit Religionsfreiheit noch Tarifautonomie zu erklären, sondern fußt auf den Privilegien im Arbeitsrecht, die Gewerkschaften und Säkulare schon seit Längerem kritisieren.
Bei ihrem Online-Bundestreffen haben die Säkularen Sozis erneut beschlossen Seit‘ an Seit‘ mit den Gewerkschaften für eine Beendigung des kirchlichen Sonderwegs im Arbeitsrecht zu kämpfen. Im Folgenden der Antrag im Wortlaut:
Sonderstellung der Kirchen beim Arbeitsrecht beenden
- Die als „Dritter Weg“ bezeichnete kirchliche Neben-rechtsordnung im Arbeitsrecht ist abzuschaffen und den Beschäftigtender Kirchen sind die vollengewerkschaftlichen Rechte wie in weltlichen Betrieben zuzugestehen.
- Es sind unverzüglich Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften aufzunehmen.
- Das Streikrecht ist als Teil der Tarifautonomie auch den Beschäftigten in kirch-lichen Einrichtungen zu gewährleisten, denn nur so können Löhne und Arbeits-bedingungen gleichgewichtig und auf Augenhöhe ausgehandelt werden;
- Das Betriebsverfassungsgesetz und die Gesetze zur Unternehmensmitbestimmung müssen auch inkirchlichen Einrichtungenvolle Anwendung finden und der „Tendenzschutz“ ist auf die Beschäftigten imengeren „Verkündungsauftrag“ der Kirchen zu begrenzen. Die Sonderstellung der Kirchen beim Arbeitsrecht kann man in folgende drei wesentliche Bereiche gliedern: Betriebsverfassungsgesetz, Recht auf Tarifverträge und Streik sowie engere Fassung des Tendenzschutzes.
Betriebsverfassungsgesetz
In der Weimarer Republik von1919 bis 1933, auf die noch heute die verfassungsrechtliche Stellung der Kirchen in Deutschland zurückgeführt wird, hatten die Kirchen keine Sonderstellung beim Arbeitsrecht. Für die Kirchen und ihre Wohlfahrtseinrichtungen- der Caritas und Inneren Mission- wurden Tarifverträge abgeschlossen. Für sie galt das damalige Betriebsrätegesetz mit all seinen Rechten und Pflichten; Ausnahmen für kirchliche Arbeitgeber und Arbeitnehmer gab esnicht.Im sog. „Dritten Reich“ wurden Gewerkschaften zerschlagen, das Betriebsrätegesetz sowie die bis dahin geltende Tarifordnung 1934abgeschafft und durch ein „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ ersetzt; das Führerprinzipwurde auch im Arbeitsrecht eingeführt, Arbeiter und Angestellte waren die „Gefolgschaft“ des Unternehmers. Im öffentlichen Be-reich wurde ein entsprechendes Gesetz eingeführt, das von den Kirchen übernommen wurde; aus dieser Zeit stammt der Begriff der„Dienstgemeinschaft“ – dazu weiter unten mehr. In Bezug auf die betriebliche Mitbestimmung war im Kontrollratsgesetz der Alliierten von 1946 keine Ausnahme für die Kirchen und ihre Einrichtungen vorgesehen. Erst durch die intensive Lobbyarbeit der beiden Kirchen wurde 1952 von der Regierung Adenauer das Betriebsverfassungsgesetz eingebracht und im Bundestag beschlossen, das in § 118 einen neuen Absatz 2 einfügte, wonach „Dieses Gesetz keine Anwendung findet auf Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen“. Im Gegenzug für diese Ausnahme hatten die Kirchen zwar zugesagt, gleichwertige Ordnungen für ihren Bereich zuschaffen, haben diese Zusage aber bis in die 70er Jahre gar nicht und auch bis heute nur unzureichend eingelöst.
In der EKD gab es erst 1959 eine erste Musterordnung für Mitarbeitervertretungen in den kirchlichen und diakonischen Bereichen, 1971 dann auch ein Muster für ein entsprechendes Kirchengesetz, aber erst 1992 – 40 Jahrespäter! – beschloss die EKD das Mitarbeitervertretungsgesetz, das inzwischen mehrfach angepasst wurde. Die evangelischen Landeskirchen haben dieses Rahmengesetz teilweise übernommen, teilweise wird aber auch davon abgewichen. Zwar ist dieKatholische Kirche zentralistischer organisiert, doch gilt auch dort eine Mitarbeitervertretungsrahmenordnung, die in allen Erz-/Diözesen übernommen werden musste und in einzelnen Regelungen erz-/diözesane Abweichungen vorsieht. Und während 1950 nur ca. 50 000 privatrechtliche Angestellte und 90 000 Diakonissen und Ordensangehörige bei der Diakonie und Caritas beschäftigt waren, so sindes heute rund 1,4 Millionen mit wachsender Tendenz! Die Unternehmen unter dem Dach von Diakonie und Caritas sind oft als Kapitalgesellschaften organisiert, kämpfen auf dem Sozialmarkt mit privaten und kommunalen Arbeitgebern um Marktanteile und Fachkräfte und unterliegen demselben Kostendruck wie andere Arbeitgeber. Denn die Finanzierung der erbrachten Leistungenerfolgt nahezu ausschließlich aus den staatlichen Steuereinnahmen sowie Sozialversicherungsbeiträgen. Kirchensteuermittel spielen eine verschwindend geringe Rolle bei der Erbringung der Leistungen. Den Marktzwängen ausgesetzt agieren kirchliche Arbeitgeber analog zu privaten und öffentlichen Trägern. So werden z.B. Tochtergesellschaften ausgegründet, um Tarifflucht zu betreiben und so die Personalkosten zu senken, Leiharbeit wird genutzt, und Teilzeit sowie befristete Beschäftigung sind geübte Normalität. Hinzu kommen jedoch kirchliche Besonderheiten, wie z.B. eine schwächere betriebliche Mitbestimmung oder einfachere Möglichkeiten Löhne zeitweise zu senken oder die Arbeitszeit zu erhöhen, wenn eine wirtschaftliche Notlage besteht. Das bietet ihnen Wettbewerbsvorteile, die weltliche Anbieter nicht haben, weil sie sich mit Betriebsräten und Gewerkschaften auseinandersetzen müssen. Nun könnte man ja sagen: Es ist doch gut, dass die beiden großen Kirchen inzwischen ihre Regelnden heutigen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes angepasst haben. Tatsächlich zeigt aber ein minutiöser Vergleich der Gewerkschaft ver.di, dass die von den Kircheninzwischen zugestanden Mitarbeiterrechte insgesamt und im Detail schlechter ausfallen als die Rechte der Arbeitnehmer nach dem Betriebsverfassungsgesetz.
Tarifverträge und Streikrecht
Eine wesentliche Grundlage unserer Sozialen Marktwirtschaft ist das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs.3 GG; Gewerkschaften handeln mit den Arbeitgebern Tarifverträge aus. Diese wirken als Rechtsnorm und regeln Lohn- und Arbeitsbedingungen verbindlich. Anders bei kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien(AVR): sie haben den Charaktervon allgemeinenen Geschäftsbedingungen und gelten nur, wenn und soweit im jeweiligen Arbeitsvertrag auf sie Bezug genommen wird.
Der kirchliche Arbeitgeberkann in den Einzelverträgen zu Ungunsten der Beschäftigten von den AVR abweichen – im Gegensatz zu Tarifverträgen. Diese gelten unmittelbar und zwingend, individuell darf nicht unter ihr Niveau abgewichen werden, zum Schutz der Arbeitnehmer*innen. Die Aushandlung der AVR geschieht auf kirchenrechtlicher Basis, ohne die Beteiligung von Ge-werkschaften, innerhalb Arbeitsrechtlicher Kommissionen, die paritätisch aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern besetzt sind. Im Streitfall entscheidet eine Zwangsschlichtung. Das Streikrecht ist auf diesem kirchlichen Weg ausgeschaltet. Dafür bildetArt. 140 GG die verfassungsmäßige Grundlage, nach der Religionsgemeinschaften ihre inneren Angelegenheiten in den Schrankendes für alle geltenden Rechtesselbst ordnen und verwalten dürfen. „Gegen den lieben Gott streikt man nicht“ ist das plakative Argument der Kirchen für das Streikverbot ihrer Beschäftigten. Tatsächlich ist aber das Streikrecht das wesentliche Kernelement von Tarifverhandlungen, denn wenn die Arbeitgeberseite sich bei Verhandlungen sperrt, sind Streikmaßnahmen der entscheidende Hebel, um die Verhandlungsbereitschaft des Arbeitgebers für Verbesserungen im Sinne der Arbeitnehmer*innen zu erhöhen. So heißt es bei der EKD in § 3 desArbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetzes: „Die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden in einem kirchengemäßen Verfahren im Konsens geregelt. Konflikte werden in einem neutralen und verbindlichen Schlichtungsverfahren und nicht durch Arbeitskampf gelöst“.
Bei der katholischen Kirche heißt es anlog in Art.7 Abs. 2 der Grundordnung: „Wegen der Einheit des kirchlichen Dienstes und der Dienstgemeinschaft als Strukturprinzip des kirchlichen Arbeitsrechts schließen kirchliche Dienstgeber keine Tarifverträge mit Gewerkschaften ab. Streik und Aussperrung scheiden ebenfalls aus.“Auf der Grundlage eines entscheidenden Urteils des Bundesarbeitsgerichts von 2012, das das Streikrecht auch für Beschäftigte in kirchlichen Einrichtungen bestätigte, wurden allerdings in einigen Gebieten der Diakonie, vor allem in Norddeutschland, bereits Tarifverträge anstelle der nur individualrechtlich wirksamen Arbeitsvertragsrichtlinien ausgehandelt. Bei der Caritas werden in der Regel die Ergebnisse des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst zeitversetzt übernommen(obwohl sie das Verhandlungssystem strikt ablehnen), um der Forderung nach gewerkschaftlich ausgehandelten Tarifverträgen für ihren Bereich entgegenzuwirken – wobei sie ihren Beschäftigten per Arbeitsvertrag die unmittelbare Mitwirkung im Tarifgeschehen verbietet. Trotzdem sind im Oktober 2017 erstmals seit Gründung der Bundesrepublik Pflegekräfte eines katholischen Krankenhauses im Saarland und in 2020 Pflegekräfte in 21 katholischen Pflegeeinrichtungen in Baden-Württemberg in den Streik getreten! Denn beim o.g. Zwangsschlichtungsverfahren beider Kirchen haben die Arbeitnehmer*innen kein Druckmittel in der Hand. Der Begriff der sogenannten Dienstgemeinschaft ist überholt. Er fußt auf der kirchlichen Annahme, dass es keinen klassischen Interessengegensatz zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in Bezug auf Löhne und Arbeitsbedingungen gäbe,folglich Gewerkschaften und ein Streikrecht nicht benötigt werden. Der Begriff ist von den Nazis 1934 eingeführt worden und die Kirchen hätten sich spätestens bei der Gründung der Bundesrepublik davon verabschieden können, doch sie haben ihn weitergeführt und versucht, ihn theologisch umzudeuten. Doch sein Zweck – vermeintliche Ausschaltung des Interessengegensatzes und der Notwendigkeit von Gewerkschaften – ist beibehalten worden und sollte schon aus diesen Gründen nicht mehr verwendet werden. Der Bundesparteitag der SPD hat 2013 beschlossen, dass der § 118 Abs.2 gestrichen werden soll, die Betriebe und Unternehmen also wie normale Tendenzbetriebe zu behandeln sind und das Streikrecht in diesen Einrichtungen uneingeschränkt zu gewährleisten sei. Geschehen ist bislang nichts zur Umsetzung dieses Beschlusses.
Tendenzschutz
Oben wurde schon erwähnt, dassseit 1952 Abs. 2 des § 118 des Betriebsverfassungsgesetzes nicht gilt für Religionsgemeinschaften und ihre karitativen underzieherischen Einrichtungen, unbeschadet ihrer Rechtsform. Es wäre dagegen völlig ausreichend, wenn dieser Abs. 2 ersatzlos gestrichen und stattdessen Abs. 1 dieses Paragraphen gelten würde, in dem es heißt: „Auf Unternehmen und Betriebe,die unmittelbar und überwiegendpolitischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, …und Zwecken der Berichterstat-tung oder Meinungsäußerung, …finden die Vorschriften dieses Gesetzes keine Anwendung, soweitdie Eigenart des Unternehmens oder Betriebes dem entgegensteht.“ Die Kirchen wären also von dieser Ausnahmeregelungschon erfasst, allerdings mit der Einschränkung „soweit…“.
Für die Mitarbeiter*innen der Kirchen hat die völlige Ausnahme weitreichende Konsequenzen: Nicht nur, dass nach wie vor die Stellenausschreibungen den Zusatz haben „Mitgliedschaft in derKirche erforderlich“, wodurch sich nicht-konfessionell gebundene Arbeitnehmer*innen für viele Arbeitsplätze, gerade im Sozial-und Pflegebereich, nicht bewerben können (obwohl das seit den EuGH-Urteilen nicht mehr so sein sollte). Sondern sie sind auch gehalten, sich am Arbeitsplatz und im Privatleben an die Regeln der Kirchen zu halten [Anmerk. d. Red.: Die sogenannten „Loyalitätsobligenheiten“] So müssen Ärzte, Ärztinnen und Pflegekräfte legale Abtreibungen in katholischenKrankenhäusern ablehnen, um eine Kündigung zu vermeiden, sie dürfen keinen geschiedenen Partner heiraten und eine gleichgeschlechtliche Ehe geht auch nicht, um nur drei Beispiele zu nennen. Und der Austritt aus der Kirche kann zur fristlosen Kündigung führen! Das Bundesarbeitsgericht hat die restriktive Haltung der Kirchen bis vor kurzem unterstützt; allerdings musste es seine jüngste Rechtsprechung durch zwei EuGH-Urteile entsprechend korrigieren.
Es wäre also an der Zeit, dass dieKirchen sich auch anpassen und nicht in jedem Einzelfall durch alle Instanzen klagen. Die Streichung des Abs. 2 in § 118 Be-trVerfG und die Beschränkung aufden 1. Absatz, also auf reine Tendenzbetriebe, würde dazu führen, dass die Tendenzschutzregelungen nur für die Beschäftigten gelten, die im engeren Verkündungungsauftrag [Anmerk. d. Red.: Im Sinne des Ethos der Organisation] tätig sind.