Eulen-Interview mit Dr. Ulrike Spohn, Politik- und Religionswissenschaftlerin. Ihr Buch Den säkularen Staat neu denken. Politik und Religion bei Charles Taylor erschien 2106. In mehreren Beiträgen, wie für den SWR oder den Deutschlandfunk, betonte sie die Wichtigkeit säkularer Staatsordnungen und religiös-weltanschaulicher Pluralität in der Gesellschaft. Derzeit ist Sie Projektmanagerin von Vielfalt leben – Gesellschaft gestalten der Bertelsmann-Stiftung.
Frau Spohn, Sie haben sich explizit mit den politischen Möglichkeiten eines säkularen Staates auseinandergesetzt. Ein Merkmal dieses Staates ist es keinen Zwang zum Glauben oder Unglauben sich zum Ziel zu machen. Wie ist das gemeint und schließt das auch einen Staatsglauben, einen „Staat als Religion“ mit ein?
Dass es im säkularen Staat keinen religiösen Zwang geben darf, heißt, dass alle Bürger ihren Glauben oder Nichtglauben in der Gesellschaft im Rahmen der geltenden Gesetze frei ausleben können. Das bedeutet konkret zum Beispiel, dass die Menschen ihre religiösen bzw. nichtreligiösen Ansichten öffentlich äußern, ihre Identität sichtbar zeigen und gemeinschaftliche Rituale ausüben können, ohne dafür vom Staat verfolgt zu werden. Der Staat gibt keine Religion vor, der alle angehören müssen. Er gibt jedoch auch nicht vor, dass sich alle Bürger eine säkulare Gesinnung aneignen müssen. Ein „Staat als Religion“ im Sinne einer vollständigen Verdrängung von Religionen aus der öffentlichen Sphäre würde dem freiheitlichen Geist eines säkularen Staates liberaler Prägung widersprechen.
Es gibt Stimmen, die eine Re-Politisierung von Religion, spätestens seit dem 11. September 2001, beobachten und mit Sorge sehen, denn oftmals werden soziale Probleme und Fragen von Bildung oder des alltäglichen Zusammenlebens nun von Zugehörigkeiten zu Religionen überlagert. Muslimische Flüchtlinge, christliches Abendland. Wird hier Religion mit Politik und Politik mit Religion verwechselt?
In den öffentlichen Debatten wird vieles pauschalisiert und miteinander vermengt, das ist ein großes Problem. Insbesondere werden gesellschaftliche Herausforderungen, wie etwa Kriminalität oder Arbeitslosigkeit, heute oft kulturalisiert, weil dies in einer komplex gewordenen Lebenswelt scheinbar einfache Erklärungen bietet. Das Unbehagen oder die Frustration angesichts gesellschaftlicher Missstände wird auf eine einfache Formel reduziert: „Die Muslime sind schuld“ oder „Die Flüchtlinge sind schuld“. Solche Sündenbock-Diskurse sind fatal. Sie gefährden nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern verhindern auch, dass bestehende Probleme und Herausforderungen adäquat angegangen werden.
Hinsichtlich der Thematisierung von Religionspolitik wird oft auf die religiösen Gemeinschaften Bezug genommen, aber die Weltanschauungsgemeinschaften werden vergessen. Ist es nicht ein Ziel des säkularen Staates hier faire, gleichberechtigte Bedingungen zu schaffen?
Es ist eigentlich nicht die Aufgabe des Staates – schon gar nicht des säkularen Staates – weltanschaulichen Gruppen, welcher Ausrichtung auch immer, „unter die Arme zu greifen“ und ihnen Geltung zu verschaffen. Dass müssen die jeweiligen Gruppen schon selbst leisten. Wenn es genügend Menschen in Deutschland gibt, die säkular eingestellt sind, sich damit als Teil einer weltanschaulichen Bewegung oder Gemeinschaft begreifen und deren Ansichten und Forderungen politisch stärker berücksichtigt sehen wollen, kann man nur sagen: Organisiert Euch! In unserer pluralistischen Gesellschaft müssen alle Verbände und Gemeinschaften ein gewisses Maß an Überzeugungs- und Lobbyarbeit leisten und ihre Mitglieder mobilisieren, um als politischer Akteur Relevanz und Gehör zu erlangen – das ist Demokratie.
Wir Säkularen wollen religiöse wie weltanschauliche Beiträge in zivilgesellschaftlicher Hinsicht gleichberechtigt würdigen, schließlich brauchen gut ein Drittel Konfessionsfreier in Deutschland auch politische Wahrnehmung und Vertretung. Sehen Sie hier Bewegung in der Politik? Auch der Parteipolitik?
Die Parteien haben das Thema Religionspolitik generell erst spät entdeckt. Erst jetzt wird dieses langsam als eigenes Politikfeld wahrgenommen und aufgegriffen. Im Angesicht des Faktums von Deutschland als religiös vielfältiger Gesellschaft sind die Parteien gefordert, diese Realität auch in ihren eigenen Strukturen entsprechend abzubilden und den Wählern Angebote zu machen. Darin liegt auch eine Chance für die Parteien. Allerdings sollten sie hierbei besonnen vorgehen und der Versuchung widerstehen, ihre religionspolitische Agenda als eine Form der Identitätspolitik zu betreiben, die auf Polarisierung und Spaltung setzt.
Sie regen zu Gelassenheit und Pragmatismus an, was verschiedene Lösungsansätze religiöse wie moralische Wertvorstellungen anbelangt, um Alltagsfragen zu lösen, wie Kleidervorschriften oder Feiertagsgesetze. Oftmals erscheint es in der Politik aber vor allem um Wählerstimmen oder neue Zielgruppen zu gehen, siehe die unverhältnismäßige Beteiligung konservativer Islamverbände in Berlin oder den Kreuzerlass in Bayern. Wie gelingt hier ein säkularer Sinneswandel?
Hier ist vor allen Dingen die lokale Politikebene gefragt. Denn die Konflikte um Kopftuch, Kreuz, Kippa & Co. werden konkret ja meist im Alltag ausgetragen: auf der Straße, in der Schule, im städtischen Freibad etc. Nicht selten wachsen sich Reibungen, in die eigentlich nur wenige Akteure involviert sind, zu nationalen Grundsatzdebatten über eine „Leitkultur“ aus – begünstigt durch den oft leider nicht gerade deeskalierenden Umgang der Massenmedien mit diesen Themen. Es braucht Lokalpolitiker, die hier beherzt pragmatisch eingreifen, etwa indem sie die in den Konflikt involvierten Parteien persönlich an einem Runden Tisch zusammenbringen und mit ihnen eine Lösung ausarbeiten, die für die Konstellation vor Ort funktioniert. Es geht also nicht darum, eine fruchtlose Grundsatzdebatte über „das Abendland“ zu führen, sondern praktisch Wege zu finden, wie konkrete Menschen an einem konkreten Ort miteinander leben können. Dies ist normalerweise im Interesse der Wähler vor Ort. Wenn es Politikern gelingt, sich glaubhaft als handfeste „Problemlöser“ zu profilieren, bringt ihnen das Wählerstimmen. Dafür braucht es aber in der Tat den Mut, sich hin und wieder aus den typischen parteipolitischen Grabenkämpfen zu lösen und Wege zu suchen, die auch mal quer zu den eingefahrenen Frontlinien verlaufen. Hier liegt im Übrigen eine Chance für die Lokalpolitik, gleichsam „bottom-up“ als innovativer Impulsgeber für die nachgelagerten Politikebenen zu wirken.