Bei der Korso-Themenwerkstatt zum „Religionsunterricht in öffentlichen Schulen“ am 23. Juli, berichtete unser Bundessprecher Gerhard Lein über das „Hamburger Modell“.
In den 50er Jahren hatte Hamburgs Bevölkerung fast 80% Protestanten , fast 7 % Katholiken. Letztere bauten auf ein eigenes Privatschulwesen, es gab also nie katholischen Religionsunterricht in staatlichen Schulen, mit der Ausnahme eines kurzes gescheiterten Versuchs in der Zeit der CDU-Regierung in den Nullerjahren. Religionsunterricht (RU) in HH war immer rein evangelisch und wurde ab den 70er Jahren nur noch von examinierten Lehrer*innen erteilt, nicht mehr von Kirchenpersonal. Ab der Klasse 7 wurde er im Zuge der Studentenrevolte von religionsmündigen, selbstbewussten Schüler*innen abgewählt. Der Staat reagierte aber schnell mit einer Pflichtalternative Werte und Normen, aus der später Philosophie wurde, so der Stand bis heute.
Die hansestädtisch liberale evangelische Großstadtkirche (erste evangelische Bischöfin Maria Jepsen 1992 !) – auch gemeinsam mit den evangelischen Freikirchen in der Stadt – vertrat einen bewusst offenen RU, in dem den Schulen sehr viel Freiraum gelassen wurde. Übrigens immer gegen den starken Protest des Kieler Kirchenamts der Nordelbischen Kirche. Dokumente kirchlicher Beauftragung des Lehrpersonals war in den Personalakten der Lehrer*innen in der Regel nicht zu finden.
1995 entstand ein behördennaher „Interreligiöser Gesprächskreis Religionsunterricht“ (einschl. Muslime, Aleviten, Buddhisten), was zu überarbeiteten Rahmenplänen für den Religionsunterricht führte – immer mehr setzte sich das Label „für alle“ durch.
Die politische Entwicklung in den Nullerjahren (CDU Regierung) führte in HH als letztem Bundesland zu parlamentarischen Verträgen mit den beiden großen christlichen Kirchen, der jüdischen Gemeinde, später dann unter SPD-Regierung auch mit muslimischen Vereinigungen und den Aleviten. Letztere beide verzichten auf ihr Recht, eigenständigen RU in den Schulen zu erteilen, zugunsten eines „Dialogischen Religionsunterrichts für alle“. Selbst die katholische Kirche erwägt z. Zt. diesem Prozess beizutreten. Eine Akademie der Weltreligionen (seit 2010 an der Universität Hamburg) soll diese Entwicklung stützen. Wichtig zu wissen ist, dass die Lehrer*innen der verschiedenen Religionen nicht nur ihr jeweiliges Segment unterrichten werden, sondern jeweils verantwortlich für den gesamten Religionsunterricht ihrer Klasse sind.
Bis hierhin könnten auch wir Säkulare sagen: Eine erfreuliche Entwicklung! Schließlich ging es weg von den exklusiven jeweiligen Glaubenswahrheiten, hin zu einem Unterricht der eigentlich auch Religionskunde heißen könnte. Wenn da nicht die GG-Bestimmungen (Art. 7 [3]) „Grundsätze der Religionsgemeinschaften“ mit ihren jeweiligen Glaubenswahrheiten wären. Die aber sollen in dem neuen Unterricht nicht vertieft werden. Und wer das alles nicht will, wählt eben die Alternative Philosophie (ca. 50%). Hamburg hat mittlerweile den höchsten Anteil konfessions- / religionsfreier Bürger in den westdeutschen Ländern, deutlich über 50%.
In den Grundschulen sowie den Klassen 5, 6 wird dieser Religionsunterricht für alle auch angeboten, allerdings gibt es die Alternative Philosophie wie der Mittel- und Oberstufe nicht. Das scheint in Hamburg aber derzeit niemanden besonders zu stören. Es gibt keine Massenproteste, keine Austrittswellen, keine öffentlichen Debatten. Die Religionsfernen scheint es nicht sonderlich zu irritieren.
Das könnte sich allerdings ändern: Mit dem Schwinden der Mitgliedschaft in der evang. Kirche (und den assoziierten Freikirchen) schwinden auch die Lehrer*innen, die Kirchenmitglieder sind. Wo früher niemand gefragt hat, wird aber jetzt nachgehakt: Denn die Legitimation der noch sehr wenigen muslimischen Religionslehrer an staatlichen Schulen, Idschaza genannt, Risalik bei den Aleviten, führt im Umkehrschluss zur Frage, wie es denn bei den anderen Religionslehrer*innen ist? Und nun hat die evangelische Nordkirche ihre Vokation wieder reaktiviert. Über die Schulbehörde werden jetzt die Kolleg*innen, die bislang das Fach Religion erteilen, aufgefordert, ihre Vokation einzureichen oder bei der Kirche bis zum Sommer 2022 zu beantragen. Das erzeugt eine Schreckensstarre in den Kollegien: „Da müsste ich ja wieder in die Kirche eintreten“. In der in Hamburg traditionell starken Gewerkschaft GEW ist die Diskussion darüber kräftig in Gang gekommen. Wäre es möglich, dass es im kommenden Jahr zu einem drastischen Religionslehrer*innen-Mangel kommt?
Wir Säkulare in der Stadt möchten auch in den Klassen 1 – 6 eine korrekte Information der Eltern über den RU. Das verweigert die Regierung allerdings. Bei einer ehrlichen und rechtzeitigen Aufklärung über diesen RU würden mehr religionsferne Eltern mit einer Abmeldung liebäugeln. Und vielleicht würde der Druck auf die Regierung steigen, auch in den Klassen 1 – 6 eine unterrichtliche Alternative anzubieten.
Das aber wollen auch viele Grundschulen nicht. Denn der gemeinsame Unterricht in einer Klasse ist nicht nur leichter zu organisieren. Er bietet auch inhaltlich eine größere Flexibilität z.B. in Projekttagen, für den Klassenrat und all die anderen Angebote, die eine attraktive Schule anbieten möchte. Ein miteinander und voneinander zu lernen ist gute Grundschulpädagogik. Und? Lehrpläne Religion? Die haben doch auch früher nicht so interessiert.
Ob die in Arbeit befindlichen neuen Rahmenpläne Religion wirklich auch für religionsfern oder gar atheistisch aufwachsende Kinder ein „identitätsstiftendes Angebot“ machen können – so steht es im Koalitionsvertrag – wird sich erst noch zeigen. Ob denn Personal mit kirchlicher Vokatio säkulare Identitäten stärken kann, oder will – selbst wenn die Rahmenpläne es vorschreiben sollten – bleibt offen.
Fazit: In der Mittel- und Oberstufe könnte ein RU für alle mit der bekannten Alternative Philosophie weiterhin erfolgreich sein. So schreibt es ja auch die in Hamburg erscheinende ZEIT voll Lobes (und voller naiver Apologie), blendet dabei aber die Probleme und Ungereimtheiten aus (Materialsammlung). Mit den Problemen der Klassen 1 – 6 beschäftigt sich derzeit aber nur ein kleiner Kreis von kritischen Menschen in Hamburg. Aber vielleicht ändert sich das im kommenden Jahr, wenn Probleme auch aufbrechen.
Im Säkularen Forum Hamburg haben wir eine Kampagne auf Abruf vorbereitet.
Verfasst von Gerhard Lein, Studienrat an Volks- und Realschulen, Staatsexamen ev. Religion, Gesamtschulleiter bis Pensionierung 2009, Bürgerschaftsabgeordneter 2004 bis 2020, seit vielen Jahren Atheist, heute im Netzwerk der säkularen Sozis, Regionalsprecher des IBKA, im Vorstand des säkularen Forums Hamburg e.V.