Ein Kommentar von unserem Bundessprecher Rolf Schwanitz (Sachsen)
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe endet nun in Deutschland eine Kontroverse, die sich über viele Jahre hingezogen hat. Am 6. November 2015 hatte der Deutsche Bundestag nach ebenso schwerer wie emotionaler Debatte ein Gesetz verabschiedet, das nur als Suizidhilfeverbotsgesetz bezeichnet werden kann. Das Urteil der Verfassungsrichter darüber ist klar und eindeutig. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, so die Richter, umfasst auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, sein leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“ (PE Nr. 12/2020 BVerfG vom 26.02.2020) Mit diesem Urteil wird die Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts durch das Sterbehilfeverbot beendet und auch das Recht von Sterbehilfeorganisationen in Deutschland durchgesetzt. Zugleich ist nun auch klar, dass ein Recht auf Sterbehilfe nicht auf vorgefasste Fallkonstellationen, zum Beispiel auf schwere Erkrankungen, die unweigerlich zum Tode führen, begrenzt werden darf. Maßstab ist allein die freie Entscheidung des Einzelnen über sich selbst. Bei aller Freude über diesen Erfolg für die freie Selbstbestimmung des Einzelnen darf nicht übersehen werden, dass dieses Urteil auch eine deutliche Ermahnung und ein kritischer Weckruf an den Deutschen Bundestag ist.
Eine Journalistin des SWR kommentierte noch am gleichen Abend in den „Tagesthemen“, sie habe große Hochachtung vor den Abgeordneten, die sich vorgenommen hatten, Alte und Kranke zu schützen, aber die Mehrheit im Bundestag sei über das Ziel hinausgeschossen. So einfach geht das, wenn man oberflächlich reflektiert. Aber der Zweck heiligt eben nicht die Mittel und im Rechtsstaat sind die Grundrechte keine x-beliebige Manövriermasse. Nein: Dieses Urteil muss ein Anlass sein, für eine harte und selbstkritische Nachbetrachtung im Parlament. Denn jene 360 Abgeordnete, die am 5. November 2015 den verfassungswidrigen Brand-Griese-Vogler-Terpe-Antrag zum Gesetz erhoben, haben damit das Selbstbestimmungsrecht, das Herzstück unserer Grund- und Menschenrechte, millionenfach missachtet und gebrochen. Die Karlsruher Richter haben diesen Verfassungsbruch mit der härtesten Sanktion belegt, die unser Rechtsstaat in solchen Verfahren vorsieht: die sofortige Außerkraftsetzung, die für Nichtigerklärung des verfassungswidrigen Gesetzes. Für einige Betroffene kam selbst dieser konsequente Richterspruch zu spät, denn sie sind verstorben bevor das Verfassungsgericht nach mehr als vier Jahren das Verbotsgesetz aufheben konnte. Die Umstände ihres Todes sind uns nicht bekannt. Ihnen hat das Gesetz aber die freie Selbstbestimmung am Lebensende dauerhaft genommen – eine schmerzhafte, leidvolle und bleibende Grundrechtsverletzung, die wegen des erlittenen Todes heute nicht mehr korrigiert werden kann.
Die 360 mit Ja stimmenden Parlamentarier hatten damals sicher höchst unterschiedliche Motive. Nach einer 18-monatigen Debatte kann aber heute niemand von ihnen ernsthaft behaupten, über die Schwere der Grundrechtseingriffe nicht hinreichend informiert gewesen zu sein. Nicht wenige von ihnen folgten bei ihrer Entscheidung auch Vorgaben und Orientierungen, zu denen sie sich aus ihrem Glauben heraus verpflichtet fühlten. Gerade ihnen hat das Bundesverfassungsgericht nun etwas ins Stammbuch geschrieben. Im Urteil lesen wir: „Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzten, entzieht sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit. Sie bedarf keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung, sondern ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“ Diese Klarstellung ist wichtig und sie sollte auch ein Anlass sein, persönliche Weltanschauungen in der Gesetzgebung außen vor zu lassen. Natürlich ist ein Abgeordneter, der über einen Gesetzentwurf entscheidet, kein weltanschauliches Neutrum. Jeder Mensch trägt ethische, moralische und weltanschauliche Orientierungen in sich, die auch seine politische Arbeit und seine Entscheidungen prägen. Das ist bei einem Abgeordneten nicht anders, als bei jedem anderen Mitbürger. Als Teil der Staatlichkeit und allemal als Teil des Gesetzgebers muss sich der Abgeordnete aber selbst strengere Maßstäbe auferlegen. In Deutschland ist die Staatskirche seit mehr als 100 Jahren abgeschafft und der Staat hat die freie Wahl der Weltanschauung seiner Mitbürger zu garantieren. Das verpflichtet den Staat selbst zur weltanschaulichen Neutralität, denn nur so kann er sicherstellen, dass der demokratische Rechtsstaat zur Heimstatt weltanschaulich freier Menschen wird.
Für den Gesetzgeber bedeutet diese Neutralitätspflicht vor allem, dass er jedem Versuch widerstehen muss, dem Land per Gesetz einen spezifischen weltanschaulichen oder religiösen Stempel aufzudrücken. Und genau das war mit dem nun aufgehobenen Verbotsgesetz geschehen. Das weltanschauliche Neutralitätsgebot des Staates gilt ohne Zweifel auch für die Legislative und die Abgeordneten haben sich als individuelle Verkörperung des Gesetzgebers daran auch zu halten. Der Entscheidungsmaßstab der Abgeordneten darf in solchen Fällen deshalb weder ein religiöses Dogma, die eigene verinnerlichte Weltanschauung, noch der Wunsch einflussreicher und nahestehender Religionen sein. Der zulässige Entscheidungsmaßstab liegt ausschließlich bei den Grundrechten selbst, so wie sie in den Artikeln 1 bis 19 sowie bei der Orientierung auf den demokratischen Rechtsstaat im Artikel 20 des Grundgesetzes festgehalten sind. Sicher: Das verlangt Abgeordnete, die sich ihrer staatspolitischen Verantwortung bewusstwerden und sich nicht nur als Vertreter persönlicher oder Interessen Dritter verstehen. Aber wann sollte ein solcher Prozess des Nachdenkens und des sich Bewusstwerdens über die eigene Verantwortung als Gesetzgeber beginnen, wenn nicht jetzt nach einem solch wegweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts.